Vorsingen.

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Nyx blieb die meiste Zeit bei mir. In Bio hatten wir eine streng aussehende Lehrerin, mit silbernem Schmuck, passend zu dem strengen grauen Dutt in ihrem Nacken, deren schmale Lippen aussahen, als würde sie nicht sehr oft lächeln. Und ich sah sie in dieser Unterrichtsstunde auch tatsächlich nicht einmal lächeln, bloß einmal missbilligend den Mund verziehen, als sie die Klone, wie Nyx die beiden Mädchen nannte, die eigentlich Kathrin und Melanie hießen, beim Zettel schreiben erwischte. Nyx witzelte darüber, dass sie wahrscheinlich darüber beratschlagt hatten, welche Lipglossfarbe am besten zu welchem Nagellack passte. Es überraschte mich, wie natürlich und selbstverständlich es mir vorkam mit ihr zusammen zu sein, obwohl wir uns erst seit ein paar Stunden kannten. Als wir wieder von dem mit Mikroskopen und ausgestopften Tieren bis zum Platzen vollen Biosaal zurück zum Mr Adams Zimmer gingen, wo wir Musik hatten und sie mir gerade erzählte, dass Mr Adams der einzige Lehrer war, der es irgendwie hinbekommen hatte, die Schulleitung zu überreden, dass er Musik in seinem Klassenzimmer und nicht in irgendeinem staubigen Musiksaal unterrichten durfte, drehte sie einen Moment den Kopf, meinte ich solle schon einmal vorgehen, sie müsse noch etwas erledigen und verschwand ohne weitere Erklärung in einer Handvoll anderer Schüler. Kurz war ich mir verloren vorgekommen, ohne ihr neben mir und ihrer Stimme in meinen Ohren, aber ich hatte mich ermahnt, ich solle mich nicht so anstellen. Und als ich vor dem Klassenzimmer angekommen war, hatten schon genug anderer Schüler dort gestanden. Als Dylan und mein Blick sich einen Moment trafen, lächelte er schmal. Verlegen hatte ich es erwidert. Nyx kam direkt hinter Mr Adams die Treppe hoch und strahlte mich an. „Wo warst du?", fragte ich sie leise. Sie lächelte und folgte den anderen ins Klassenzimmer. „Ich wollte bloß kurz meinen Bruder fragen, ob er unseren Eltern Bescheid sagen könnte, dass ich noch in den Buchladen gehe, nach der Schule." „Du hast einen Bruder?", fragte ich etwas überrascht. Sie redete selbst so viel, dass ich nicht auf die Idee gekommen war, sie selbst nach so etwas zu fragen. „Ja. Aber wir sehen uns dafür, dass wir Geschwister sind und auf dieselbe Schule gehen, recht wenig." Sie schien darüber nicht allzu betrübt zu sein, aber ich fragte auch nicht weiter nach.

In Musik saßen wir nicht an den Tischen. Jeder schnappte sich einen Stuhl und wir setzten uns im Halbkreis um den Steinway herum. Ich bemerkte, dass ein Paar Jungen, die mir zuvor noch nicht aufgefallen waren neugierig zu mir herüber sahen. Eigentlich mochte ich Stuhlkreise, aber sie hatten den Nachteil, dass man besser angestarrt werden konnte. Ich konzentrierte mich auf Mr Adams, der wieder lächelte und die Rücken der CDs und Schallplatten, die sich im Regal aneinander reihte. Alle Interpreten, die mir etwas sagten, mochte ich selbst und hatte mehr als bloß ein Lied auf meinem Handy von ihnen. Irgendwie fand ich es toll, dass wir ähnliche Musik hörten, auch wenn es vielleicht merkwürdig klingen mag. „Also wie ihr alle wisst, bin ich selbst kein Fan vom Theoretischen Teil in der Musik, weswegen ich vorschlagen würde, wir singen heute bloß, machen dann in den nächsten paar Stunden die Theorie, schreiben eine Arbeit und musizieren und singen danach nur noch. In Ordnung?" Allgemeines, zustimmendes Gemurmel. Mr Adam lächelte. „Ausgezeichnet." Er holte einen Kasten mit Singbüchern aus dem Regal. Nyx brachte mir eins mit und ich blätterte es neugierig durch. Blowing in the wind, She's always a woman, American Pie, Catch the wind... „Hat jemand einen Liedwunsch?", fragte Mr Adams in die Runde. Man merkte ihm an, dass er voll und ganz in seinem Element war. Meine Hand war schneller oben, als ich es überhaupt bemerkte. Er lächelte überrascht. „Das trifft sich ja super. Was wolltest du denn vorschlagen?" Ich hörte, wie Nyx neben mir seufzte. „Lady in black von Uriah Heep." Ich bemerkte das überraschte Augenbrauenhochziehen von Mr Adams. Es schien als hätte er nicht damit gerechnet, dass jemand in dem Raum, dieses Lied kannte, geschweige denn wählen würde. Aber er hatte seine Gesichtszüge sofort wieder unter Kontrolle und lächelte wieder so nett und offen wie eh und je. „Würde es dir etwas ausmachen, wenn du die ersten Verse ansingen würdest?" Nyx neben mir seufzte abermals. Mein Körper fühlte sich plötzlich wie erstarrt an. „Wie...wie bitte?" Er lächelte nachsichtig. „Alle in der Klasse, kennen die Stimme der anderen. Und da du neu bist, dachte ich mir, du könntest vielleicht beginnen zu singen. Bloß die erste Strophe." Mir war bewusst, dass ich ihn immer noch entgeistert anstarrte und wusste nicht wie ich darauf reagieren sollte. Nyx stieß mir leicht den Ellenbogen in die Seite und ich schien mich langsam aus meiner Erstarrung zu lösen. „Also..." „Nur einmal probieren.", sagte er ermutigend. Wo hatte ich mich da bloß rein geredet? Wie von selbst standen meine Beine auf und stellten sich neben ihn an den Steinway. „Seite zweiundsiebzig.", sagte er sanft, während seine Finger durch die Seiten glitten und das Buch schlussendlich auf die Notenablage stellten. „Du brauchst keine Angst zu haben.", sagte er beruhigend. Vielleicht hatte er meine Panik bemerkt oder es war einfach einer seiner Standartsprüche. „Und die anderen setzten nach der ersten Strophe ein." Ich nickte wieder, der Kloß in meinem Hals schien es mir unmöglich zu machen zu atmen und heftete meinen Blick auf die Worte. Fünf kleine Verse. Ich konnte das schaffen. Sonst hatte ich nur in großen Gruppen oder zum Spaß gesungen. In der Küche, wenn ich kochte oder unter der Dusche. Dann wenn mich niemand hörte. Ich atmete tief ein und versuchte mich zu konzentrieren. Die Blicke der anderen schienen sich wie heiße Kohlen in meine Haut zu bohren. Aber das war mein kleinstes Problem. Als er die ersten Töne auf dem Flügel anschlug schienen sie vor mir in der Luft zu schweben, aber ich bekam sie nicht zu fassen. Eine kurze Pause im Spielen. Ich starrte immer noch auf die kleinen schwarzen Zeichen vor meinen Augen. Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Ich hatte meinen Einsatz verpasst. „Du weißt wo du einsetzten musst?" Mehr als ein ruckartiges Nicken bekam ich nicht zustande. Mein ganzer Körper fühlte sich an, als würde er verbrennen. Und ich hatte gedacht, der erste Schultag würde gut verlaufen... Er begann wieder und diesmal bekam ich es wenigstens hin richtig einzusetzen. Die Worte schienen zuerst schüchtern über meine Lippen zu tröpfeln, bis ich etwas sicherer wurde und begannen wie selbstverständlich aus meinem Mund zu fließen und in die Luft zu steigen. Als die letzten Töne nach „...from a fight I could not win." verklangen, setzte niemand zu Refrain ein. Mr Adams spielte nicht einmal weiter. Verunsichert sah ich von meinem Notenbuch auf und die anderen an. Nyx und der Junge, der vorher mit Troya gesprochen hatte, starrten mich an, als seien mir plötzlich Tentakeln aus dem Kopf gewachsen. Dylan räusperte sich verlegen, als sei er es, der angestarrt wurde und der Rest schwieg. Man hätte eine Stecknadel fallen hören und das Schweigen verunsicherte mich noch mehr, als wenn sie mich ausgebuht hätten. Sogar in Mr Adams Blick lag Überraschung. Konnte mir mal jemand erklären, was hier überhaupt los war? „Du kannst dich wieder setzen.", sagte er schlussendlich und durchbrach das Schweigen, das sich wie Sirup um mich herum ausgedehnt hatte. Benommen ging ich auf meinen Platz zu. Ich hatte mit jeder Reaktion gerechnet. Lachen, ausbuhen, betretenes Wegsehen. Aber nicht dieses alles erdrückende Schweigen. Meine Knie fühlten sich immer noch wackelig an, als ich wieder den Stuhl unter mir spürte. Mr Adams räusperte sich. „Dann schlagt mal alle Seite vierundneunzig auf." Er schlug die ersten Töne für Piano Man an und die ganze Klasse blätterte wie aus Trance erwacht, hektisch in ihren Liederbüchern herum. Sie begannen zu singen und ich starrte die Noten verständnislos an. „Alles in Ordnung?", flüsterte Nyx ohne ihren Blick von Mr Adams zu wenden. Ich nickte matt.

Wege der Liebe. ~oder wie man eine Horde geisteskranker Jungs überlebt.~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt