33 - Was?

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Ich war nicht traurig wieder nach Hause zu fahren. Es war so viel passiert auf dieser Klassenfahrt. Es war Zeit diesen Ort wieder zu verlassen und neu anzufangen. Ich wollte, dass Paul es endlich wusste. Viel zu lange lebte er schon in der Ungewissheit.

Er hatte seit meinem Umarmungsüberfall stets mindestens fünf Meter von mir Abstand gehalten. Seine Blicke sprachen Bände. Er verachtete mich zutiefst.

Paul setzte sich in die letzte Reihe des Busses, während ich mit Barne wieder in der ersten saß. Er schien meine Anwesenheit nicht zu ertragen und so viel Abstand wie möglich zu suchen. Mir war die Situation so unangenehm. Ich hatte wirklich einen Fehler gemacht. Er musste mich für bekloppt und verrückt halten. Aber immerhin hatte Barne endlich ein Einsehen. Er würde es ihm sagen und das schon sehr bald. Ich setzte alles darauf, dass dann alles besser werden würde.

Ich hatte jedoch große Angst Paul zu enttäuschen. Er stellte sich unter seiner Mutter bestimmt eine andere Frau vor, als seine seltsame Klassenlehrerin.

Die Busfahrt verlief eine ganze Weile wortlos. Im Bus war es erstaunlich still. Die Kinder hatten die letzte Nacht in Italien wohl noch gefeiert und hingen nun durch. Die meisten schauten verträumt aus dem Fenster, während sie Musik hörten oder schlummerten vor sich hin.

Barne las wieder in seinem riesigen Ordner mit Skripten über betriebswirtschaftliche Grundlagen. Ich vertiefte mich in meinen Roman.

Ich wagte es erst mitten in der Nacht mich an Barne zu lehnen und ein bisschen mit ihm zu kuscheln. Er hatte eine unglaublich beruhigende Wirkung auf mich. Die Kinder um uns herum schliefen alle schon. Ich wollte nicht, dass sie etwas von unserer Romanze mitbekamen. Zumindest nicht mehr, als sie eh schon wussten.

Barne legte seinen Arm um mich herum und küsste mich. 

„Wir können ein richtige Familie sein", flüsterte er mir ins Ohr, während draußen die Dunkelheit an uns vorbeischoss. Es klang so etwas wie Vorfreude in seiner Stimme mit. „Kannst du dir das vorstellen? Wir zwei als Eltern? Ich glaube, das kann richtig gut werden."

Ich wolle nicht zu viel Hoffnung darein legen, aber in meinem Kopf ergab das ein sehr schönes Bild. Es hing alles von Pauls Reaktion ab.

„Wir sollten es langsam angehen lassen und Paul damit nicht zu sehr überrumpeln. Ich meine, es wird für ihn echt komisch sein. Ich bin immerhin seine Lehrerin. Wir sollten ihm unsere Beziehung also auch nicht aufdrängen und ihm Zeit geben, das alles  zu verarbeiten."

Barne zog mich zu sich ran und küsste mich erneut. Wenn es nach mir ginge, könnte er das die gesamte Busfahrt über tun.

„Ich denke, dass er es gut aufnehmen wird und er wird auch verstehen, warum du dich ihm gegenüber in den letzten Tagen so seltsam verhalten hast. Es wird schon alles gut werden."

Barne wirkte so optimistisch, während er das sagte.

„Du meinst also wirklich, dass wir eine richtige Familie sein könnten?",  fragte ich hoffnungsvoll.

„Ja."

„WAS?", ertönte plötzlich eine laute Stimme.

Ich zuckte zusammen. Zum einen, weil ich davon ausgegangen war, dass alle um uns herum schliefen, zum anderen, weil es ausgerechnet Pauls Stimme war.

Das dürfte jetzt nicht wahr sein.

Ich hatte nicht bemerkt, dass er direkt neben uns gestanden hatte.

Er war aus dem Nichts gekommen. Was machte er hier? Wieso saß er nicht in der letzten Reihe, so wie er es auch während der letzten Stunden getan hatte?

„PAUL!", kam es aus Barnes und meinen Mund gleichzeitig.

Panik und Schock standen uns ins Gesicht geschrieben.

Was hatte er gehört?, schoss es mir als erstes durch den Kopf. Seinem Gesichtsausdruck eindeutig zu viel.

Er wirkte fassungslos. Und das völlig zurecht. So hatte er es nicht erfahren sollen.

„Paul, hör mir bitte zu!", sprach Barne mit leichtem Hang zur Panik, ehe ich oder unser Sohn etwas sagen konnte.

„NEIN!", brüllte er und spätestens jetzt war der gesamte Bus in der Aufwachphase. „Ich hab keine Ahnung, was hier gerade vor sich geht, aber wir werden keine Familie sein!", zischte er eindringlich, sodass nur wir Drei es hören konnten. „Vergesst es! Nur über meine Leiche!"

Er wirkte fassungslos.

Kurz ging sein Blick leer in unsere Richtung. Wir starrten überfordert zurück. Dann drehte Paul sich mit abrupt um und ging den Gang entlang, zum Ende des Busses. Verzweifelt und hilflos sah ich ihm hinterher. Warum musste alles immer nur so schief laufen?

Barne reagierte schnell neben mir und kletterte hastig über mich herüber, um Paul zu folgen.

"Warte!", rief er. "Paul, bleib bitte stehen", hörte ich Barne sagen.

Ich ließ mich in meinen Sitz fallen. Wir hatten es vermasselt.

Ab sowas von!

Er wusste es.

Und seine Reaktion war alles andere als erfreut gewesen.

Ich drehte mich um und warf einen Blick in den Gang. Ich sah wie sich Barne und Paul ernst unterhielten, während die Schüler drum herum versuchten zu verstehen, worum es ging.

Ich wünschte, ich könnte auch etwas verstehen, doch ich saß zu weit weg.

Barne kam jedoch erstaunlich schnell wieder. Ein klärendes Gespräch konnte in dieser kurzen Zeit nicht stattgefunden haben. Barne sah angespannt aus.

„Und?", fragte ich ihn.

Er seufzte.

„Wir sprechen später drüber. Alle drum rum haben zugehört. Da konnten wir ja schlecht offen sprechen. Ich wollte nicht, dass sie das mitbekommen und ich denke, dass Paul es ähnlich ging. Bei der nächsten Raststätte werden wir in Ruhe darüber reden."

Ich ließ meinen Kopf hängen. Die nächste Pause war erst in einer Stunde angesetzt. Ich würde während dieser 60 Minuten durchdrehen.

„Er war echt sauer, oder?", fragte ich vorsichtig.

„Natürlich war er das. Ist ja auch verständlich. Wenn man auf diese Art und Weise erfährt, wer seine Mutter ist, würde sich wohl jeder hintergangen fühlen. Das heißt aber nicht, dass er dich als Mutter nicht akzeptieren wird. Ich denke, er braucht ein bisschen Zeit. Das ist alles. Es wird schon alles gut werden."

Barnes Gesichtsausdruck passte nicht zu seinen Worten. Er sah ernsthaft besorgt aus. Ich verlor langsam den Glauben daran, dass alles gut werden würde

Barnes BabyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt