1 - Paul Bergman

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Zuerst fiel mir ein zierliches Mädchen auf. Sie saß still da und schien vertieft in ihr Buch zu sein. Ihr hübsches Gesicht versteckte sie hinter einem Pony, der dringend mal gekürzt werden müsste. Niemand außer mir schenkte ihr Beachtung. Sie erinnerte mich an mich selbst. Als ich 16 war, hatte ich auch immer so im Klassenraum gesessen. Ich hatte unuzählige Bücher in den Pausen gelesen, weil keine Freunde dagewesen waren, mit dene ich hätte sprechen können. Es war eine einsame Zeit gewesen und ich war froh, dass ich das hinter mich gebracht hatte.

Damals hätte ich nie gedacht, dass ich einmal das Selbstbewusstsein haben würde Lehrerin zu sein. Doch so war es und nun hatte ich sogar meine erste eigene Klasse bekommen. Erst gestern war ich aus den USA zurückgekommen. Der Jetlag zehrte noch an meinen Kräften, doch ich wollte mir an meinem ersten Arbeitstag nicht anmerken lassen, dass ich mich lieber in mein Bett kuscheln wollte.

Die Schulklingel ertönte.

Ich wartete kurz, doch keiner der Schüler schien sich für das Signal zu interessieren. Lediglich das zierliche Mädchen legte ihr Buch weg.

Ich begann mich zu räuspern, um die Aufmerksamkeit der Teenies zu bekommen. Nur die Hälfte sah zu mir. Die anderen starrten auf ihre Displays.

„Dürfte ich um eure Aufmerksamkeit bitten?", sagte ich nun lauter und die meisten sahen zumindest kurz von ihren Handys auf, um die neue Lehrerin zu mustern.

„Ich bin Frau Steward. Eure neue Klassenlehrerin."

Sofort begann das Getuschel. Neue Klassenlehrerinnen waren immer etwas Aufregendes. Das wusste ich noch aus einer eigenen Jugend. Die ersten Momente waren wichtig. Ich wollte, dass sie mich mochten und nicht die blöde Lehrerin sein, über die sie in den Pausen herzogen und sich fiese Spitznamen ausdachten. Ich war 34, sah aus wie 26 und hatte somit hoffentlich ganz gute Karten bei meinen Schülern.

„Ich werde euch in Englisch und Bio unterrichten. Keine Angst, ich nehme niemanden an die Tafel, wenn er nicht will und schreibe auch keine unangekündigten Tests."

Einige Schüler schmunzelten, andere wirkten erleichtert. Meine Taktik schien aufzugehen.

„Ich bin eine von den Guten", sagte ich halbscherzend und versuchte jugendlich zu klingen.

Ich setzte mich auf den Lehrertisch und ließ meine Beine in der Luft baumeln.

Ich wollte nicht streng und gemein sein, sondern eben die coole Lehrerin, die auch mal für einen Spaß zu haben war.

„Geben Sie uns auch alle eine Eins?"

Die Stimme war provokant. Ich sah zu dem Jungen. Er wirkte aufmüpfig und ich wusste sofort, dass ich mit ihm noch öfter aneinanderrasseln würde. Er war derjenige, der für Unruhe in der Klasse sorgte. Diese Typen erkannte man sofort. Das hatte ich auch schon an den amerikanischen Schulen festgestellt und hier war es offenbar nicht anders. Die Art wie er da saß und mich überheblich ansah, schrie förmlich Rebellion. So einen hatte man in jeder Klasse.

„Wer sich anstrengt, bekommt eine Eins", stellte ich klar. „Ich erwarte schon, dass Hausaufgaben gemacht werden und für Klausuren gelernt werden."

Er hatte mir schon gar nicht mehr zugehört und sich seinem Handy gewidmet. Für den Moment duldete ich es, jedoch nicht auf Dauer.

„Ich werde erst einmal die Anwesenheit kontrollieren", widmete ich mich nun wieder meiner eigentlichen Tagesagenda. "Ich ruf eure Namen auf und ihr gebt mir ein Zeichen. Ich werde versuchen mir schnell eure Namen zu merken."

Ich schlug das Klassenbuch auf und fing an.

„Lola Abu Dakah?"

Das schüchterne Mädchen hob ihre Hand.

Ich lächelte ihr aufmunternd zu, doch sie wich meinem Blick aus. Ich widmete mich den nächsten Namen.

„David Baumann?"

Ein Junge mit Übergewicht und fieser Akne sagte laut „Hier".

„Karolina Below?"

„Krank", rief ein selbstbewusstes Mädchen, die eine Seite ihrer Haare abrasiert hatte und auf der anderen Seite beeindruckende Dreadlocks zu einem Zopf gebunden hatte. 

Ich machte ein Kreuz bei Karolina und ging eine Reihe nach unten.

Beim dem Namen, der dort stand, rutschte mir das Herz in die Hose. Ich starrte auf das Klassenbuch. Immer wieder las ich die Buchstaben. Das dürfte nicht wahr sein.

Ja, ich war seit gestern wieder in meine Heimat gezogen. Ja, das war die Schule, an der ich und Barne unser Abi gemacht hatten. Ja, es war die Stadt, in der ich meinen Sohn zur Welt gebracht hatte. Doch nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich ihm hier begegnen würde. Schon gar nicht auf diese Art und Weise.

Aber vielleicht war es einfach ein anderer Paul Bergman. So selten schien mir die Kombination nicht zu sein.

„Paul Bergman?"

Meine Stimme zitterte, während ich seinen Namen aussprach. Mein Herz schlug schneller.

Keine Antwort.

Ich sah auf und schaute meine Schüler an.

„Paul?", fragte ich noch einmal.

Alle drehten sich zur letzten Reihe.

„Man Paul, sie hat dich aufgerufen", rief das Mädchen neben ihm und stieß ihren Ellenbogen in seine Rippen. Er hatte Kopfhörer auf, die er nun lässig abnahm.

Das war der Junge, den ich bereits als Problemkind abgestempelt hatte.

Er sah mir nun direkt in die Augen. Es traf mich wie ein Schlag. Das waren Barnes Augen. Ohne Zweifel.

Da war mein Sohn.

Dort in der letzten Reihe saß tatsächlich mein Sohn.

„Ja, ich bin Paul", sagte er genervt.

Barnes BabyWhere stories live. Discover now