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Vergessen. Jeder hat Angst davor. Neun Buchstaben können ein Leben ruinieren. Es muss schrecklich sein, seine Freunde und Familie nicht mehr zu erkennen.

Aber es gibt auch Leute, die absichtlich vergessen wollen. Sie wollen einfach mal frei sein und dem tristen Alltag entkommen. Vielleicht wollen sie auch bestimmte Menschen oder Schicksalsschläge vergessen. Ich gehöre zu dieser Gruppe. Ich will Lou und Ems für ein paar Stunden vergessen. Ich will vergessen, was er mir angetan hat und vergessen, warum Ems abgehauen ist. Vielleicht hat sie nur so getan, als wäre es ihr egal, dass ich Drogen nehme. Überraschen würde es mich nicht. 

Apropos Drogen. Ich muss schauen, dass ich heute Abend Stoff kriege. Ich hatte zwar schon öfter Entzugsphasen (wegen meinen Eltern) und die gingen länger, aber ich brauche sie zum Leben. Warum versteht das keiner?

Ich öffne meinen Kleiderschrank und werfe alle Kleider, die partytauglich sind, auf mein Bett. Schließlich entscheide ich mich für ein bordeauxfarbenes Kleid (siehe Bild oben. Nur ohne Ärmel und bis knapp über die Knie.) Dazu passende schwarze High Heels, einen dünnen Eyeliner-Strich (?), Wimperntusche und dunklen Lippenstift. Perfekt. Jetzt muss ich nur noch warten, bis auch die Aufsicht schlafen ist und mich dann rausschleichen. 

Ich räume alles wieder auf und verschanze mich im Bad. Ich höre, wie es klopft und die Lehrerin hereinschaut. "Cleo?", ruft sie.

"Bin im Bad, auf der Toilette!", rufe ich zurück. "Ich geh danach ins Bett."

"Okay", sagt die Lehrerin und verschwindet wieder. Vorsichtshalber warte ich noch zehn Minuten, nachdem ich das Licht ausgeknipst habe. Sicher ist sicher. 

Ich öffne lautlos die Tür, nehme meine High Heels in die Hände und husche den Gang entlang. Ich meine, ein Geräusch zu hören, aber ich habe mich wohl verhört. 

Ich schleiche über die Treppe und in die Eingangshalle. Wie zu erwarten, ist die große Eingangstür verschlossen. Aber in der Mädchentoilette ist noch ein Fenster offen. Ich zwänge mich dadurch und stehe auf dem Rasen. Ich laufe über den Kiesweg und zum großen Tor. Neben dem Tor ist ein großer Holzzaun. Liz hat mir gestern von einer losen Latte erzählt. Da, ich hab sie gefunden. Schnell schlüpfe ich hindurch und stehe jetzt auf der Straße. Ich laufe weiter  die Straße entlang (mit High Heels). Irgendwann komme ich ins Zentrum und sehe schon die blinkenden Lichter der Disco.

Innen erfüllt mich die Musik. Ich bewege meinen Körper passend zur Musik auf die Theke zu und lasse mich auf einen Hocker fallen. Der Barkeeper kommt zu mir. Ich bestelle Wodka. Der Alkohol fließt meine Kehle hinunter. Ich kippe noch ein paar Shots hinterher. Langsam merke ich, wie der Alk seine Wirkung erzielt. Ich lächele den Barkeeper noch mal an und mische mich dann unter die tanzwütige Menge. Ich vergesse. Endlich. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht auf und ich bewege mich zur Musik, verschmelze mit ihr. Verschwitzte Körper reiben sich um mich herum aneinander. Hände fahren meine Hüften auf und ab. Ein Junge in meinem Alter haucht mir ins Ohr: "Wer bist du, Sonnenschein?" 

"Cleo", flüstere ich zurück.

"Ein wunderschöner Name", flüstert der Unbekannte in mein Ohr zurück. "Nenn mich Kyle." 

Ich spüre seine Bauchmuskeln durch den dünnen Stoffen meines Kleids. Während wir tanzen, haucht er kleine Küsse auf meinen Hals und Schlüsselbein. Wie sehr hab ich solche Kleinigkeiten vermisst. 

Irgendwann haben wir genug und Kyle führt mich zu seinen Freunden. Sie haben eine Ecke besetzt und ein paar Brownies stehen auf einem Teller auf dem Boden. "Auch einen?", fragt Kyle mich und ich nicke. Er reicht mir einen und ich beiße gierig hinein. Der Geschmack von Hasch sticht sofort heraus. Ich lächele zufrieden und lehne mich an seine starke Brust.

Zusammen mit seinen Freunden und deren Begleitungen ist auch bald der letzte Krümel weg. Ich erhebe mich von Kyle's Schoß und stehe wackelig auf. "Ich muss mal kurz für kleine Mädchen", kichere ich und versuche, nicht auf die sich bewegenden und lachenden Flaschen Alkohol zu treten. 

Ich wanke zur Toilette und ergebe mich. Ich spüle mit ein bisschen Wasser aus dem Hahn nach, damit der bittere Geschmack weggeht. 

Mich an der Wand abstützend krieche ich wieder zu Kyle zurück. Doch plötzlich bleibt ein Mädchen vor mir stehen. Ihre rote Mähne glänzt im Licht. "Oh mein Gott, Cleo, da bist du ja!", ruft sie und drückt mich. "Halleluja, wieviel hast du denn bitte intus?" Sie legt einen Arm um meine Hüfte. "Luke, hilf mir mal." Ein Junge kommt auf uns zugelaufen. "Da bist du ja endlich", seufzt er erleichtert. "Wir dachten schon, du wärst wie Ems verschwunden."

Ems.

Ihr Name geistert durch mein Hirn und ich zucke zusammen. Tränen treten in meine Augen und ich kann sie nicht zurückhalten. Sie fließen über meine Wangen und tropfen auf den Boden. Luke seufzt und drückt mich kurz an ihn. Ich rieche einen leichten Duft nach Erdbeere.

"Du magst Erdbeeren?", fragte ich und fange an, zu grinsen. 

"Ja", meint Luke nur. "Liz, ruf ein Taxi."

Liz nickt und entfernt sich kurz von uns. 

"Ich mag auch Erdbeeren. Ich mag dich." 

"Okay, jetzt machst du mir Angst. Du heulst und lachst gleichzeitig. Wird Zeit für dich, ins Bett zu gehen."

"Och nö", schmolle ich.

Liz kommt wieder und sie und Luke bringen mich zum Ausgang. Das Taxi kommt und wir fahren zurück zum Internat. Sie bringen mich irgendwie wieder in mein Zimmer zurück, ohne Aufsehen zu erregen und legen mich ins Bett. Mehr bekomme ich nicht mehr mit, da mir meine Augen zufallen und ich ins Land der Träume gleite.

Friss oder StirbWo Geschichten leben. Entdecke jetzt