4. Kapitel

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Sprachlos sehe ich Joyce hinterher, die gerade mein Zimmer verlässt. Bevor die Tür hinter ihr zufällt, schlüpft Samira hinter ihr hindurch. Natürlich nicht ohne Devon einen letzten, verführerischen Blick zuzuwerfen. 

Dieser ignoriert es weiterhin gekonnt und setzt sich zufrieden seufzend auf seinen Stammplatz neben meinem Bett. Ich hingegen starre weiterhin die geschlossene Tür an. In meinem Kopf drehen sich die Wörter, die ich in Joyce' Notizbuch gesehen habe. Das eingekreiste Wort macht mich nervös. Schizophrenie. 

Bin ich vielleicht wirklich verrückt? 

Kann ich doch keine Schutzengel sehen, sondern sie sind nur ein Hirngespinst? Fliehe ich seit dem Autounfall in eine paranoide Realität und das alles hier ist gar nicht echt? Ist Devon vielleicht wirklich nur eine Halluzination?

Und wenn ja, wieso?

Ich habe mal gehört, dass einen die menschliche Psyche vor Traumata und harten Schicksalsschlägen schützt, in dem sie einen das Erlebte verdrängen lässt. Das würde bei mir passen, denn ich kann mich absolut an nichts von dem Unfall erinnern. Ich weiß keine Hintergründe dazu, sondern nur, dass er überhaupt passiert ist.

Wovor schützt mich mein Körper? Davor, dass der andere Fahrer gestorben ist und ich mir insgeheim die Schuld an seinem Tod gebe? Aber das macht keinen Sinn. Es könnte schließlich auch sein, dass er der Verursacher des Unfalls war und ich sein Opfer, welches daran mitbeteiligt war. Aber ohne eigenes Verschulden.

Da ich mich nicht erinnern kann, könnten beide Möglichkeiten der Wahrheit entsprechen. 

Wütend balle ich unter der Decke meine Hand zur Faust. Es macht mich verrückt, diese Lücke in meinem Gedächtnis zu haben.

Jeder kennt bestimmt das Gefühl, in den Keller zu gehen und sich dann unten angekommen zu fragen, weswegen man überhaupt hergekommen ist. Genauso fühlt es sich an. Nur noch viel schlimmer, weil es mit meinem gesamten Leben zusammenhängt. Ich zweifle an meinem eigenen Verstand und das ist gefährlich.

Nachdenklich runzle ich meine Stirn. Das Beispiel mit dem Keller bringt mich auf eine Idee. Meistens fällt einem ja wieder ein, was man da unten wollte, wenn man zurück in seiner Wohnung steht. An der Stelle, an der einem der Gedanke gekommen ist, was man aus dem Keller holen wollte. 

Kerzengerade setze ich mich auf und Devon zuckt aufgrund der plötzlichen Bewegung neben mir zusammen. »Alter, was ist denn jetzt los?«, ranzt er mich an.

Mit großen Augen starre ich in seine Richtung. Kurz kommt mir der Gedanke, dass er laut Joyce Diagnose nicht existiert und ich ihn ignorieren sollte. Aber andererseits existiert er für mich. Egal aus welchem Grund. Also kann ich auch weiterhin mit ihm interagieren. Was soll schon passieren?

»Ich werde hier drinnen langsam verrückt. Ich möchte hier raus.« Völlig überzeugt von meinem Vorhaben, schwinge ich die Beine aus dem Bett und setze mich an die Bettkante. Devon zieht langsam seine Augenbraue nach oben und bleibt direkt vor mir sitzen. 

»Du möchtest hier raus«, widerholt er. Und zwar in einem Tonfall, der mich langsam wirklich glauben lässt, dass alles was ich tue und denke, völlig verrückt ist. Schnaubend ziehe ich die Decke an die Seite. »Oh ja und ich werde auch hier raus gehen. Darauf kannst du dich verlassen.«

Devon blickt mich wieder undurchdringlich an und seine Mundwinkel zucken amüsiert nach oben. Gelassen lehnt er sich nach hinten und beobachtet mich dabei, wie ich aufstehe und kurz schwankend mein Gleichgewicht finde. Dann nehme ich, wie es mir mein Physiotherapeut gezeigt hat, meinen Katheterbeutel in die Hand und entferne mich langsam vom Bett.

Man muss sich erstmal dran gewöhnen, das gesamte Körpergewicht nur mit einem Arm ausgleichen zu können. Mein verletzter Arm befindet sich nämlich immer noch in einer Schlinge und aufgrund der Verbrennungen an meiner Haut lässt er sich auch noch nicht strecken. Also torkle ich mehr als das ich laufe zum Schrank rüber und öffne ihn. Blinzelnd blicke ich auf die leeren Regalfächer. Um meine nackten Füße weht ein kalter Luftzug und ich bekomme auch an meinem Rücken eine Gänsehaut. 

TodesengelWhere stories live. Discover now