Prolog

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Bozeman, Montana, ist eine mittelgroße Stadt nahe des Yellowstone National Parks im Süden und der Bridger Mountain Ski Area im Norden oder der Big Sky Ski Resorts im Südwesten. Die Stadt bietet das ganze Jahr hindurch ideale Voraussetzungen für Touristen; egal, ob sie sportliche Aktivitäten, Natur oder Ruhe suchen.

Die Touristen beobachten Bären und Wölfe, sie klettern, fahren Ski oder Snowboard. Viele von ihnen kommen regelmäßig wieder. Bozeman ist ein Anziehungspunkt - wieder, ist man geneigt zu erwähnen. Die kleine Stadt hat in jüngster Vergangenheit üble Schlagzeilen erhalten, seitdem ein Werwolf viele Menschen getötet und eine Gruppe von Aliens ausgeschaltet hat. Die Erinnerungen sind noch tief in den Gedächtnissen der Bevölkerung verankert, doch die Touristen haben zusammen mit den alten Zeitungen vergessen, was hier vor einem Jahr geschehen ist.

Der Alltag hat sich normalisiert. Die Menschen haben sich nach langen und intensiven Weiterbildungen und Informationsveranstaltungen daran gewöhnt, dass es Werwölfe gibt und auch daran, dass diese unter uns weilen und wir sie oftmals nicht erkennen. Die Menschen gehen zur Arbeit, sie bezahlen ihre Rechnungen, haben Lunch im Diner im Zentrum und fahren zum Einkaufen in die gigantischen Malls außerhalb der Stadt. Bozeman ist eine normale Stadt im mittleren Nordwesten der USA; und die ganze Stadt bereitet sich auf Weihnachten vor.

***

In den Wäldern der umliegenden Hügel streift ein übergroßer Wolf unruhig zwischen den Fichten durch den Schnee. Ihm ist seltsam kalt, als hätte er sich während der letzten achthundert Jahre noch nicht an sein Leben unter freiem Sternenhimmel gewohnt. Am Waldrand, in der Nähe eines Parkplatzes, stockt das Tier in seinen Bewegungen. In kurzen Stößen schnuppert der Wolf die Umgebung ab, dreht den Kopf nach links und nach rechts. Aus seiner Nase dampft es, kleine Wolken schweben nebelartig hoch. Rund um das Tier herrscht Stille.

Der Wolf krümmt seinen Rücken, stemmt ihn hoch und entrollt sich zu einem zweibeinigen Wesen, das seltsamerweise Kleidung trägt. Die Hinterläufe strecken sich, während der Kopf sich langsam rundlich formt. Selbst die spitzen Ohren rutschen seitlich weg und verschwinden unter dem Rest des Felles, welches den Kopf bedeckt. Als Mensch tritt er unter den Bäumen hervor, auf den Parkplatz hinaus. Er ist müde, hat seit Wochen kaum richtige Nahrung zu sich genommen; und doch sind seine Augen freudig wach, als er vom Rand des Parkplatzes auf das friedliche Städtchen hinunterblickt.

Der Mann lächelt; er hat goldbraunes Haar und sein Gesicht ist sanft regelmäßig geformt. Er hofft, am Ziel zu sein und setzt sich zufrieden auf einen grossen Stein, der die Fahrzeuge offensichtlich davor abhalten soll, über den Platz hinaus in den Abgrund zu rollen. Er wird sich einen Wagen beschaffen müssen, wenn er seine Mission fortsetzen will, denkt er sich immer noch die Aussicht genießend. In seinen Gedanken taucht eine sehr ähnliche Szene auf, weit weg von hier und vor langer Zeit, im Hochgebirge der Mongolei.

Der Film beginnt, als der Mann sich erinnert. Er sitzt auf einem sehr ähnlichen Stein, am Rande einer schmalen Straße und blickt auf den Fluss hinab, der sich tief in der Schlucht durch die Felsen schlängelt. Neben ihm sitzt Zoya, seine Frau, ihr Baby Ari stillend. Er erinnert sich nicht mehr daran, worüber sie gesprochen hatten oder welche Pläne sie sich zurecht schmiedeten. Er erinnert sich an ihr herzerwärmendes Lachen und an die fröhlich glucksenden Laute des Babys. Er erinnert sich an den fürchterlichen Schmerz, als der streunende Wolf sie angegriffen hat, und in einem Moment, als die Zeit stillzustehen schien und Bewegungen in Zeitlupe abliefen, seine Zukunft ausgelöscht wurde. Er erinnert sich an seinen Kampf ums Überleben und auch daran, wie er später Rache geschworen hat. Vor achthundert Jahren; und noch immer kollern Tränen in den Schnee als die Szene wie ein Film in seinem Kopf abläuft. Seine Liebe ist unendlich - sein Hass ebenso. "Manchmal ist es die Liebe, die dich dazu bringt, den nächsten Atemzug zu tun. Manchmal ist es Rache", murmelt er.

Hinter ihm wird es auf einmal hell, ein Auto fährt langsam auf den Platz und hält in respektvollem Abstand. Ein junger Mann steigt aus und erleichtert sich neben dem Fahrzeug, dessen Motor weiterläuft, rockige Weihnachtsmusik dringt aus den Lautsprechern nach draußen. Eine Frau, offenbar seine Freundin, wartet lachend im Wagen und schaut ihm bei der Notdurft zu, mit ihrem Handy knipst sie ein Foto, was er protestierend kommentiert.

Die Augen des Wanderers werden gelblich, als er die Szene beobachtet. Er lächelt, kann sein Glück beinah nicht fassen. Langsam erhebt er sich und geht in Richtung des Waldes davon - seine Kleidung weicht dem grauen Fell. Seine Mission scheint gerettet; die lange Wanderung und Suche wird ein Ende finden und er vielleicht endlich seine Ruhe, die er vor so langer Zeit verloren hat.

Die darauffolgenden Schreie vertreiben die Vögel und Rehe. Die Scheinwerfer des Wagens leuchten in die Leere und der Motor wummert leise weiter; der Schnee um den Wagen färbt sich rot, während frischer Schneefall einsetzt.

BlutjungWhere stories live. Discover now