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Seine Worte hallen in Endlosschleife durch meinen Kopf. Egal, wie sehr ich mich bemühe, ich verstehe es einfach nicht. Selbst jetzt noch, nachdem ich mich von meiner schlechtesten Seite gezeigt habe, sieht er das Gute in mir. Wie ist das möglich?

Ich nicke nur. Auch wenn ich weiß, dass das bei weitem nicht ausreicht. Doch die letzten Minuten haben mich alles an Kraft und Mut gekostet, was ich aufbringen konnte.

»Du hast mich in einem meiner schlimmsten Momente erlebt«, beginnt er nach einer Zeit. »Als ich ganz unten war. Kotzend auf dem Badezimmerboden.« Tom schüttelt den Kopf und lacht leise in sich hinein, als könne er nicht glauben, dass er das tatsächlich ausgesprochen hat. »Und du warst für mich da. Obwohl ich mindestens genauso ekelhaft zu dir war.«

»So macht man das doch«, gebe ich, ohne darüber nachzudenken, zurück. »Also, wenn einem jemand wichtig ist.«

Erneut lacht er. »Genau das ist der Punkt. Du kommst einfach daher, setzt dich dazu, füllst Leere mit Wärme und spendest Trost. Aber was ist mit dir, Emma. Was ist mit deiner Leere?«

Überfordert weiche ich seinem durchdringenden Blick aus, der die Macht hat, bis in meine dunkelsten Abgründe vorzudringen.

Doch Tom lässt nicht locker. »An diesem Morgen hast du mir gesagt, dass man Schwäche manchmal zulassen müsste, um wieder stark sein können. Erinnerst du dich?«

Sicher tue ich das. Nur ist es tatsächlich bedeutend leichter anderen kluge Ratschläge zu erteilen, als sie bei sich selbst einzusetzen. »Ja«, krächze ich, immer noch darum bemüht endlich diese dämlichen Tränen zurückzuhalten, die alles nur noch schlimmer machen.

Eine Weile beobachte ich aus dem Augenwinkel, wie er mich mustert, bis er etwas sagt, dass ich selbst nicht einmal gemerkt habe.

»Ist dir eigentlich schon aufgefallen, dass du in solchen Momenten wie jetzt immer die Luft anhältst. So als wolltest du mit aller Macht sämtliche Stahltüren schließen, um in diesem dunklen Raum gefangen zu bleiben?«

Mit jedem weiteren Wort aus seinem Mund nehme ich den größer werdenden Druck in mir wahr. Ich atme aus. Und doch schaffe ich es nicht, ihn vollständig abzulassen. Irgendwas sagt mir, dass etwas Furchtbares passieren wird, wenn ihn komplett nach draußen lasse. Weil ich ihn brauche.

Dennoch ist mein Mund schneller und entlässt Worte in die Freiheit, an die ich mir nicht erlaube zu denken. »Vielleicht ... weil er das Einzige ist, das diese Leere füllen kann.«

Tom sagt nichts, aber sein Blick, ehe er die Arme um mich schlingt, gibt mir den Rest. Ein Teil von mir schreit, dass ich mich zusammenreißen soll. Er darf mich so nicht sehen, obwohl es in den letzten Jahren genügend Momente gab, in denen ich die Kontrolle über meinen Körper verloren habe. Augenblicke, die mein Gehirn allesamt in eine Schublade mit der Aufschrift Datenmüll gesteckt hat, um sie kaum, dass sie vorbei waren, in den Schredder zu werfen und sämtliche Erinnerungen daran zu löschen. Leider war es dabei nicht gründlich genug. Kleine Fetzen blieben, die mein Verstand mir als Dinge verkauft hat, die ich nicht selbst erlebt habe, nicht gefühlt habe, sondern einfach wie Zuschauer von der ersten Reihe der Tribüne mit angesehen hat.

Auch gerade versucht er das, sagt mir immer wieder: Das bist nicht du. Das ist nicht echt. Du bist nur dabei. Das ist alles. Ich weiß alle Dinge. Immerhin bin ich geradezu ausgeflippt, als Mrs. Wellenstein lediglich vorsichtig angedeutet hat, dass dieser Schutzmechanismus ist, der mich das, was passiert ist, irgendwie überleben lassen hat. Sie hat es mit einer Art Parallelwelt verglichen, ein Zwischendeck, das mich zwar vor sämtlichen Sturmfluten bewahrt hat, mir aber kaum Luft zum Atmen lässt und dessen Planken mit den Jahren so massiv geworden sind, dass auch schöne Dinge an ihnen abprallen. Sie meinte doch tatsächlich, dass der einzige Weg dorthin führt, wo das lauert, was mich ertrinken lässt, bevor ich die Möglichkeit habe, wieder auftauchen zu können. Erst jetzt erinnere ich mich wieder daran, dass ihr einen Vogel gezeigt und sie nach ihrem Verstand gefragt habe. Obwohl ich wohl diejenige war, die sich diese Frage hätte stellen müssen. Wie eine Irre bin ich aus dem Zimmer gestürmt, habe die Tür hinter mir zugeknallt und bin in meinen Wagen gestiegen, wo ich einige Zeit gesessen habe, bis ich den Eindruck wieder klar zu sein.

Wie konnte ich das nur vergessen? Und wieso erinnere ich mich ausgerechnet jetzt daran? Ist es, weil gerade genau das passiert? Ich keine Luft mehr bekomme, während eine tonnenschwere Last mich weiter die Tiefe zieht?

Plötzlich sind da keine Gedanken mehr in meinem Kopf. Nur diese Leere, die mich glauben lässt, ich würde sterben. Bilder, Geräusche, Gerüche, die mir so fremd und doch so grausam vertraut erscheinen. Ich spüre, wie mein Körper zittert, höre mein Herz, das gegen meine Brust hämmert, als hätte es dieses Gefängnis endgültig satt.

Da ist eine Hand. Sie ist warm, streicht über meinen Rücken. Auf und ab. Ab und auf. Immer und immer wieder.

»Lass los. Ich bin da«, flüstert mir eine Stimme zu, die mir ebenso vertraut ist.

Und dann ... tue ich es tatsächlich. Ich lasse los. Und falle. In diese Schlucht, die kein Ende nimmt. Mit Haut und Haaren verschluckt sie mich, wie ein überdimensionales Monster, das seinen Schlund geöffnet hat, um mich beim lebendigen Leib zu verspeisen.

Where Joy finds a homeWhere stories live. Discover now