Chapter 2

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Warum bloß hatte sie es ihr nie erzählt? Warum hatte sie ihr immer vorenthalten, dass es eine Prophezeiung gab, die ihr später das Leben schwer machen würde? Ashe lag auf ihrer Strohmatratze und hatte die Augen geschlossen, doch zum Schlafen war sie noch nicht in der Lage. Zu sehr pochten noch in ihr die Gedanken an die Prophezeiung und ihre Mutter, die sie ihr die ganze Zeit verschwiegen hatte. Plötzlich ertönte ein leises Rascheln und Ashe drehte sich in aller Eile auf die Seite, um den scharfen, prüfenden Blicken ihrer Mutter zu entgehen. Kaum, dass die Geräusche verstummten, schlug Ashe die braunen Augen wieder auf und ihre Blicke wanderten durch die in dem Zimmer vorherrschende Dunkelheit. 

Dort drüben, auf dem guten Bett, dass sie besaßen, lag nun eine Gestalt. Sie war leicht gekrümmt, als wolle sie sich vor etwas schützen, doch Ashe wusste, dass ihre Mutter immer so schlief. Schließlich hatten sie nur dieses eine Zimmer zum Schlafen. Sehnsüchtig dachte sie zurück an die kurze Zeit, an die sie sich im Palast erinnern konnte. Die Räume waren groß gewesen, groß genug, um eine Armee von Trollen darin unterzubringen und hoch genug, um noch zwei darauf zu stapeln. Ashe seufzte. Würde sie diese Säle je wiedersehen? Oder war sie dazu verdammt, auf die Prophezeiung zu schauen, zu warten, dass endlich der Zeitpunkt der Rache gekommen war? Endlich der Zeitpunkt da war, da Ashe losziehen und den König, diesen Hund von einem Murnuk, töten durfte? Dieses ganze Dorf von Verrätern erhängen durfte? 

Nein. Ashe riss sich zusammen. Sie war besser als der große König der Zwerge. Für sie bestand keine Not, dafür zu sorgen, dass ihre Gegner, solange sie ihnen nicht in der Schlacht begegnete, ihr Leben aushauchten. Sie würde jedem seine Haut lassen, ob ehrlich oder nicht, und sie bloß hinaus in den dichten Wald schicken, der sich schützend um die dicken Mauern der Festung schlang, für Unwissende und Unvorbereitete Narren jedoch den leichten Tod bedeuten konnte. Das war Wissen, das jeder in Obbs besaß. 

Jeden könnte man fragen, um immer und immer wieder ein und dieselbe Antwort zu erhalten. Allerdings würde auch diese Methode dafür sorgen, dass die Verräter starben – Zumindest relativ wahrscheinlich. Ashe kniff die Augen zusammen. Warum bloß war sie heute so schlecht gesinnt? Sie wollte doch Leben bewahren und nicht aushauchen lassen! Sie seufzte – leise natürlich, um ihre im grob gehobelten Bett nicht zu wecken. Die Strohmatratze raschelte leise, als sie sich langsam wieder auf den Rück drehte und ihre Augen zur Decke wandte. Dann nährten sich ihre Lider einander und Ashe Kishidas Blickfeld wurde schwarz.


Ashe gähnte und kletterte müde die knarzige Leiter aus dem Obergeschoss in die Küche. „Mutter?" Keine Antwort. Skeptisch lugte Ashe um die Ecke, sodass sie den Durchgang zur Küche sehen konnte. Sie duckte sich gewohnheitsmäßig leicht, um einem schweren Holzstamm auszuweichen, der in den Boden der oberen Etage eingearbeitet war. „Mutter?" Ashe kletterte über einen Stapel frisch gehackter Holzscheite – offensichtlich war Ize, der Dorfförster, heute Morgen schon da gewesen. Sie lächelte beim Gedanken an den brummigen Mann mit dem roten Holzfällerbart, der eigentlich immer mit seiner Axt auf der Schulter die Wege anderer Menschen kreuzte. 

Dann trat sie um die Ecke der Küche. Plötzlich bemerkte sie etwas Klebriges an den Füßen und langsam, Böses ahnend, senkte sie den Blick und fing hysterisch an zu schreien, als sie erkannte, was da auf dem Boden der Küche lag, die Arme angewinkelt, die Augen wie zum Schlaf geschlossen. 

The Obbs Chronicles - The Lost KingdomWhere stories live. Discover now