Chapter 1

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Schützend schlang sich die Stadtmauer Arlaas um die kupfernen Dächer, doch sie konnte die Stadt nicht vor dem Ansturm des Nebels schützen, der, sich drohend über das Wasser wälzend, versuchte, die dunklen Gassen des kleinen Fischerdorfes zu erreichen. Nach und nach verschluckte er gierig die im Hafen liegenden Boote, die, größtenteils mit Fangnetzen ausgestattet, auf die Hauptbeschäftigung der Einwohner hinwiesen. Plötzlich schwang sich aus dem geöffneten Fenster des Archivs, nur kurz oberhalb der Straße ein Schatten, dann durchbrach das Trommeln schneller Schritte auf dem Pflaster der Hauptstraße die gefährlich ruhige Nacht. Es war ein Mädchen, nicht älter als sechzehn Jahreswechsel vielleicht. Seine kinnlangen, schwarzen Haare wehten leicht hinter ihm her, genau wie der dunkle Mantel, der ihren Körper eigentlich umhüllen sollte, jetzt jedoch nutzlos in der Luft hinter ihr herflatterte wie ein Schatten. In der Hand hielt es eine Schriftrolle. 

Das Mädchen fuhr urplötzlich auf den Hacken herum und bog direkt in eine kleine Seitengasse ab, rannte sie ein Stück entlang und quetschte sich dann in eine Lücke zwischen zwei der kupferbedeckten Steinbauten. Einige Schritte später klopfte sie dringlich an eine Tür, so laut, dass an dem Fenster gegenüber das verschlafene Gesicht einer etwas betagteren Frau erschien. Sie spähte kurz heraus, entdeckte das Mädchen im schummrigen Licht der Laterne, die die Tür beleuchtete, seufzte schwer und ging wieder zu Bett. So ging es nicht das erste Mal. Nein, es war nicht das erste Mal, dass das Mädchen erst mitten in Nacht, wenn einer der Monde am Himmel leuchtete, zurückkehrte. Irgendwann würde ihr noch etwas geschehen. Endlich wurde die rötliche Holztür, vor der das Mädchen gestanden hatte, knarrend geöffnet und es schlüpfte ohne ein Wort an der Frau, die geöffnet hatte, vorbei, ohne sie auch nur eines winzigen Blickes zu würdigen.

Ashe Kishida stand in der Küche des Hauses, einen wärmenden Tee in den zitternden, bläulich verfärbten Händen und sah nun endlich ihre Mutter an, die im hölzernen Türrahmen lehnte, einen aus Leinen gefertigten Schlafanzug am Leib und ein flüchtiges Gähnen auf den Lippen.
„Es gibt eine Prophezeiung.", stellte Ashe fest, ohne mit den Wimpern zu zucken. Yuka nickte und machte eine auffordernde Handbewegung. „Ist das etwas Neues?" Ashe sah sie fest an. „Eine Prophezeiung, die wahrscheinlich mich betrifft." Yukas braune Augen wurden groß, dann seufzt sie und setzt sich auf einen der robusten Küchenstühle. „Wie hast du das herausgefunden?" Ashe zuckte mit ihren Schultern und deutete auf die Schriftrolle, die mittlerweile ihren Weg auf den selbstgeschreinerten, etwas plump wirkenden Tisch gefunden hatte. Yuka seufzte erneut, griff danach und rollte sie vorsichtig auseinander. Ihre Augen wurden noch größer, als sie den Text, der darauf stand, laut vorlas.

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Denn wenn der Junge des Feuers der Erde Mädchen trifft
Wird alles möglich sein.

Doch nur, wenn die Kräfte der Elemente
Zusammenarbeiten
Kann die Mission gelingen.

So ruft das Kind des Wassers und des Himmels
Und schwört euren Schwur
Denn nur dann kann das Licht Obbs erneut erstrahlen.

Dunkel wird nur von Licht besiegt

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Sie starrt Ashe an, in ihren Augen blitzt etwas auf, dass Ashe seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen hat – Angst. „Wenn der Schicksalsmond verschwindet ...", haucht sie. Ashe nickt ungeduldig. „Seit wann weißt du davon?" Yuka sieht von dem Pergament auf, ihre Augen schimmern verdächtig. „Seit zwei Jahren etwa." Ihre Tochter sieht sie strafend an. „Warum hast du mir nichts davon gesagt?" Sie wartet auf eine Antwort, doch die Mutter senkt den Blick bloß wieder. Dann beginnt plötzlich der Wasserkessel, der in der Ecke über dem Herdfeuer hängt, zu pfeifen. Yuka nimmt die Gelegenheit beim Schopf und springt auf. „Geh ins Bett.", bittet sie Ashe leise, „Wir reden morgen." Dann kehrt sie ihr den Rücken zu und macht sich am Kessel zu schaffen. Ashe bleibt überrascht einen Moment im Türrahmen stehen, dann dreht sie sich frustriert um und stapft aus dem Raum. Yuka zuckt zusammen, als hätte ihre Tochter die Tür zugeschmissen, doch das kann sie gar nicht getan haben, denn die Küche hat keine Tür. Bloß den rustikalen, von geschälten Baumstämmen gestützten Eingang. Vorsichtig sieht sie sich um und lässt vom Wasserkessel ab. Wie bloß soll sie ihrer Tochter sagen, was sie alles würde durchmachen müssen? Dann fliegen ihre Gedanken zu dem Brief, der noch immer in der Schublade ihres Nachttisches liegt. Sie sollte ihn Ashe endlich geben, für den Fall, dass etwas geschah, womit sie nicht rechnete. Und wie, wie sollte sie ihr das mit dem Kopfgeld erklären?

The Obbs Chronicles - The Lost KingdomWhere stories live. Discover now