II - 15

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Gretel löste sich aus ihrer Erstarrung und beobachtete, wie Florian seiner Anna einen Kuss auf die Lippen drückte, nachdem der letzte Ton verklungen war. Das brach den Bann und sie schaffte es, ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. Anna brachte ihren Sohn auch nach Jahren zum Leuchten.
Als sein Blick sie traf, lächelte sie noch breiter. In seinen Augen leuchtete das Wissen, dass dieser Song genauso für sie eine Bedeutung hatte. Dass sie so die Liebe definierte. Ein Zittern lief durch sie und sie fragte sich nicht zum ersten Mal heute, ob sie verlernt hatte, auf die Liebe zu- statt wegzulaufen.
Trotz der Entfernung sah sie, wie Florian die Stirn runzelte. Sie hatte ihm vieles verschwiegen in den letzten Jahren. Um ehrlich zu sein, sein ganzes Leben lang. Sie wusste einfach nicht, wie sie ihm all die Sachen sagen sollte, die unter ihrer Oberfläche wohnten. Und brodelten, von Zeit zu Zeit. Anders als er hatte sie immer versteckt, was sie beschäftigte.

„Ist alles ok?" Gretel beobachtete Florian schon eine Weile, wie er sein Essen auf dem Teller hin und herschob. Nun hob sich sein Kopf und sie bemerkte, wie sein leerer Blick sich klärte, ehe er mit den Schultern zuckte.

„Ja, schon. Oder auch nicht. Ich weiß nicht." Sie fitzte die Augen zusammen und unterließ es, nochmal nachzufragen. Er würde sich öffnen, wenn er so weit war, das machte er immer. Und er war nun 18, da hatte man einfach seine Geheimnisse, die man nicht mit der Mutter diskutiert haben mochte.

„Ich hab doch das Schulprojekt da. Ich mach es zusammen mit einem Mädchen. Sie heißt Anna. Sie gibt mir Rätsel auf." Ihre Brauen hoben sich noch mehr und Florian zuckte mit den Schultern, ehe er seufzte.

„Worum ging es nochmal bei dem Projekt?" Ihr Sohn schien schon wieder in Gedanken weggedriftet gewesen zu sein, denn ein Ruck ging durch ihn, ehe sich sein Blick zurück auf ihr Gesicht fokussierte. Da er sie ratlos anschaute, wiederholte sie ihre Frage nochmal.

„Wir sollen in den nächsten Wochen bis zum neuen Schuljahr in das Leben des Projektpartners eintauchen. Und Anna ist eben meine Partnerin. Was ziemlich herausfordernd ist. Ich meine, sie ist in diesem Jahr neu in die Klasse gekommen, etwa im März und seitdem sitzt sie eben mit den anderen Idioten mit mir im Raum. Sie spricht so gut wie nie, es sei denn, sie wird was gefragt und ansonsten schweigt sie und hält den Blick auf den Tisch vor ihr gesenkt."

„Ok? Vielleicht ist sie schüchtern?"

„Nein, ich glaube, es hat mit den Gemeinheiten zu tun, die sie ihr an den Kopf werfen. Ich hab das vorher gar nicht so kapiert. Anna ... sie ist ... hm ... etwas mehr sozusagen. Aber es steht ihr, also ... keine Ahnung." Sie konnte nicht verhindern, dass sie grinste, weil Florian so stammelte. Doch sie beeilte sich, schnell wieder einen neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen, als er sie anfunkelte. „Ma! Wir sind nur Projektpartner, ok?"

„Klar. Was anderes hab ich ja auch nicht gesagt." Als ihr Sohn mit seinen Augen rollte, biss sie sich auf die Zunge, um nicht doch loszulachen. Das Mädchen war nicht nur eine Projektpartnerin. Sie ging ihm unter die Haut. Aus welchen Gründen auch immer.

„Na ja, jedenfalls war ich diese Woche ja bei ihr dabei. Ich bin mit ihr zu ihr nach Hause und hab gesehen, wie sie so lebt und ... keine Ahnung. Das ist echt krass." Florian wirkte so betroffen, dass ihr Anflug von Humor von ihr abfiel und sie runzelte die Stirn.

„Inwiefern?"

„Ja, ich weiß nicht. Kannst du dir vorstellen, dass sie zum Beispiel kein Abendessen mehr bekommt, wenn sie nicht pünktlich um 18 Uhr zuhause ist? Aber sie isst nichts, wenn sie in der Schule ist. Ich hab sie bis jetzt immer nur essen sehen, wenn wir es pünktlich bis zur Deadline geschafft haben. Wofür ich gesorgt hab. Ich schwöre, mir ist immer noch schlecht, wenn ich an den ersten Projekttag denke, an dem ihr Magen so gottserbärmlich geknurrt hat und sie nichts mehr essen durfte." Ein Seufzen drang über seine Lippen und er strich sich durch sein Haar, ehe er wieder gedankenverloren mit seiner Gabel spielte, die er dazu auf den Tisch zurückgelegt hatte.

„Ihre Eltern sind offenbar sehr streng..."

„Nein, so kann man das nicht sagen. Ich meine, ich habe ihre Mutter noch nicht kennengelernt, die arbeitet wohl Schicht. Nur ihr komischer Stiefvater ist immer zuhause und macht Anna runter, wenn sie es wagt auch nur eine Scheibe Wurst mehr aufs Brot zu legen, als er es für richtig hält. Sie wirkt, als würde sie die ganze Zeit total unter Strom stehen. Nur in ihrem Zimmer ist sie lockerer. Das im Keller ist. Kannst du dir das vorstellen? Im Keller." Gretels Herz machte einen Hüpfer in ihrer Brust, weil ihr Sohn so betroffen wirkte. Doch zeitgleich schürzte sie die Lippen.

„Du weißt nicht, was sich dort abspielt, Florian. Du solltest jetzt keine irgendwie gearteten Meinungen entwickeln. Du hast ja noch ewig Zeit, um wirklich zu erfahren, was dort vor sich geht, oder? Ist sie denn nett?"

Sie bemerkte, wie seine Augen kurz aufleuchteten und er nickte, bevor er wieder ernst wurde. „Ja, schon. Nur still eben. Ma, bin ich ignorant?"

Sofort ruckten ihre Augenbrauen hoch und sie starrte ihren Sohn verwirrt an. „Wieso fragst du?"

„Keine Ahnung. Ich sitze doch jeden Tag mit in der Klasse und hab offenbar nie mitbekommen, dass sie so auf Anna herumhacken. Ziemlich heftig. Saskia grunzt, wenn Anna etwas sagt, nur weil sie ein wenig Übergepäck hat. Keine Ahnung. Das ist jedenfalls nicht richtig. Aber das hätte ich doch merken müssen, oder nicht?"

„Sie grunzt? Wow. Das zeugt von Stil. Das arme Mädchen. Es ist hart, dafür verurteilt zu werden, wie man aussieht." Ein Seufzen schlüpfte über ihre Lippen und sie zuckte mit den Schultern. „Ich finde nicht, dass du ignorant bist. Ich kann dir auch nicht beantworten, warum du diese Gemeinheiten nicht vorher bemerkt hast – womöglich hast du sie bemerkt und sie einfach als Neckereien abgetan. Ich weiß es nicht. Aber ich finde es ohnehin wichtiger, dass du ihr das Gefühl gibst, dass Anna in Ordnung ist. Selbst, wenn du sie nicht attraktiv findest. Das muss sie nicht wissen."

„Oh, nein. Also ... äh ... sie ist hübsch. Ihre Augen leuchten, wenn sie mal lächelt. Und ihre Figur? Na ja. Das passt schon. Zu ihr. Zu ihr passt das. Und sie ist echt schlau. Sie hat die Hausaufgaben immer in der Hälfte der Zeit fertig, die ich dafür brauche. Außerdem..." Sie biss sich auf die Lippen und lauschte ihrem Sohn, der wohl sein Herz ernsthaft an ein Mädchen verloren hatte, ohne es zu bemerken. Oder zumindest hatte diese Anna sein Interesse geweckt. Während er von ihr erzählte, bemerkte sie, wie er zu essen anfing und immer wieder grinste, wenn ihn eine Tatsache rund um das Mädchen amüsiert hatte.

Ohne dazu Stellung zu beziehen ließ sie ihn reden und dachte sich, dass sie schon sehr gespannt war, wann sie Anna kennenlernte.

Nun spielte wieder ein Lächeln um ihre Mundwinkel. Sie war so stolz darauf, dass sie die Kurve bekommen hatten. Und es war nicht seine Pflicht, sich mit ihren Befindlichkeiten auseinanderzusetzen. Nicht so, wie es ihre Verpflichtung gewesen war. Sie war die Erwachsene gewesen, während er seinen Weg noch gesucht hatte. Gemeinsam hatten sie ihn gefunden, sagte sie sich und wandte sich Annas Vater zu, der sich gerade erhob. Sofort schlich sie zu ihrem Platz zurück und hauchte Flo einen Kuss auf die Wange, als er sie besorgt musterte. „Ich hab dich lieb, Raupe."
Er erwiderte, dass er sie auch liebhabe, und sie nickte gerührt, als er unter dem Tisch seine Finger mit ihren verflocht und seine Aufmerksamkeit seinem Schwiegervater zuwandte. Ja, sie hatten es geschafft, diese Krise zu bewältigen. Doch das hinderte ihre Gedanken nicht daran, die Zeit in ihrem Leben hervorzuholen, in der sie den Glauben an die Liebe fast verloren hätte...

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now