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„Hey, Babe." Schon jetzt brach ihre Stimme und Gretel biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, ehe sie in die Hocke sank und in ihrer Tasche nach der mitgebrachten Grabkerze suchte. Stumm tauschte sie das neue Leuchtmittel gegen das alte aus und entzündete die Flamme. Währenddessen versuchte sie, die Tränen zurückzuhalten. Sie wollte nicht dem Schmerz nachgeben, der durch sie tobte. Stattdessen wollte sie lieber in den Erinnerungen schwelgen, die ihre Zeit mit ihrem Mann so besonders gemacht hatten.

Dennoch kippte ihre Stimme, als sie den Blick wieder auf die in den hellen Marmorstein geprägten Buchstaben richtete. Nach wie vor riefen sie den Nachhall des Unglaubens hervor, wenn sie daran dachte, dass sie wirklich den Namen ihres geliebten Gegenstücks bildeten. „Heute bin ich alleine hier. Flo ist mit seiner neuen Freundin beschäftigt. Ich muss zugeben, dass ich nicht genau weiß, ob ich mich freuen soll, dass er deinen Todestag darüber vergessen hat."

Da sie sich irgendwie beschäftigen musste, begann sie, die verwelkten Reste der Blumen auf dem Grab von der torfigen Oberfläche der Erde zu rupfen. „Versteh mich nicht falsch, Babe. Ich gönne ihm sein Glück und Anna – sie ist echt fantastisch. In ihr wohnt eine Stärke, von der sie selbst am wenigsten ahnt und sie besitzt eine Güte, die in Wellen von ihr ausgeht, ohne dass sie sich dessen bewusst wäre. Doch da ist auch viel Traurigkeit in ihrem Blick. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht wieso. Gestern dachte ich, ich würde dem Geheimnis auf die Spur kommen. Da hat Flo mich völlig panisch angerufen und mich gebeten, Anna und ihn bei ihr abzuholen. Dabei sagte er, es ginge um etwas, mit dem du beruflich zu tun gehabt hast."

Reflexartig zuckte sie mit den Schultern und stellte wie nebenbei fest, dass ihre Stimme stabiler geworden war. Trotzdem zitterten ihre Hände dafür umso mehr. „Das arme Mädchen war völlig durch, als sie ins Auto gestiegen sind. Aber ich weiß weiterhin nicht, woher diese Traurigkeit herkommt, die zwar immer seltener aus ihrem Blick leuchtet, doch da ist. Ich vermute, sie hat es nicht sehr leicht in ihrem Leben. Sie ist viel gereifter als diese Saskia, die Flo zuerst angeschleppt hatte."

Ein Seufzen drang über ihre Lippen und ein kurzes bellendes Lachen entrang sich ihrer Kehle, als sie sich bewusst wurde, dass ihr Mann jetzt die Augenbrauen hochziehen und sie tadelnd anschauen würde. „Ich weiß, dass du diese Aussage nicht gutheißen würdest. Und wahrscheinlich hast du damit recht, dass sie mir nicht zusteht, weil Florian seine Erfahrungen selbst machen muss. So wie wir unsere machen mussten. Scheiße, Babe, du fehlst mir immer noch so sehr."

Jetzt brach ihre Stimme genauso wie der Damm, der ihre Tränen in Schach gehalten hatte. Unwillig wischte sie sich über ihre Wangen und versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. „Ich weiß nicht, warum ich heute so nah am Wasser gebaut bin. Es ist doch schon zwei Jahre her, seit es an unserer Tür geklingelt hat und uns die Nachricht überbracht worden ist, dass du nie wieder nach Hause kommst. Und wir haben uns im letzten Jahr gefangen, weißt du? Aber es tut immer noch so weh, dass du mich nicht mehr in den Arm nehmen kannst."

Sie biss sich auf die Zunge und wartete zwei bebende Atemzüge lang, bis sie das Gefühl hatte, wieder gerade Sätze bilden zu können. „Das fehlt mir. Du konntest so wunderbar umarmen und weißt du, ich denke, ich konnte dir nicht genug zeigen, wie gut du das konntest. Genauso wie du küssen konntest. All das vermisse ich so sehr. Ich vermisse dich. Heute noch mehr als sonst. Kannst du dir vorstellen, dass ich neidisch auf Florian und seine Anna bin? Wie armselig, oder?"

Sie schüttelte den Kopf über sich selbst und vertiefte sich erneut darin, die welken Blätter abzuzupfen, damit sie den Primeln nicht unnötig Wasser und Lebenskraft entziehen konnten, und wischte sich dabei immer wieder über ihre Wangen. Wie froh sie gerade war, dass sich niemand in ihrer unmittelbaren Nähe befand. Wie peinlich sie doch war, dass sie so empfand und das auch noch kundtat! Wenn ich ehrlich bin, ist es aber nicht die Sache mit Flo und Anna, die mir auf dem Herzen brennt.

„Ich habe mich gestern fast mit Emmy gestritten." Die Worte polterten aus ihrem Mund, ehe sie diese zurückdrängen hätte können und ihre bebenden Finger hielten automatisch einen Sekundenbruchteil inne, ehe sie sich aufs Neue an die Arbeit machten. „Sie will, dass ich mich wieder verabrede. Sie sagt, ich hätte jetzt genug um dich und unsere Liebe getrauert. Kannst du dir vorstellen, dass sie mit der Aussage um die Ecke kam, dass es mit meinen knapp 40 Jahren verboten wäre, mich bis ans Lebensende an den einen Mann zu erinnern, den ich geliebt habe?"

Erneut flutete sie die selbe Wut vom Abend zuvor und sie musste tief durchatmen, um ihre Stimme in der gleichen Lautstärke zu halten. „Ja, ich weiß, dass du ihr auch noch zustimmen würdest. Du warst nie von der Theorie überzeugt, dass eine Liebe für ein Leben reicht. Aber du musst zugeben, dass du genau das wolltest, sonst hättest du nicht immer wieder mit mir um unsere Beziehung gekämpft, oder?"

Aufs Neue stahl sich eine Träne aus ihrem Auge und sie wischte sie mit dem Daumenballen weg. „Du hast also gar kein Recht dazu, mir zu sagen, dass ich mich falsch verhalte, ok? Ich glaube einfach nicht, dass ich es ertragen könnte, dass es nicht deine Augen sind, in die ich morgens schaue, wenn ich meine aufschlage. Du warst alles Hendrik. Und das wirst du immer sein. Und wenn es mich zerreißt vor Sehnsucht nach einer wohlwollenden Berührung, die nicht von unserem Sohn kommt..."

Ihr Zorn ebbte genauso schnell ab, wie er aufgequollen war, und Gretel schüttelte den Kopf, während sie die Arme um sich schlang. Obwohl auch hier die Luft wegen der Hitze flirrte, durchlief sie nun ein Frösteln. Die Tränen liefen nun wieder zahlreicher über ihre Wangen und sie ließ es geschehen. Die Worte auf dem polierten Stein verschwammen nun vor ihren Augen. „Babe, ich weiß es nicht, verstehst du? Ich weiß einfach nicht, wie. Du bist so tief in meinem Herzen verankert. Schon so lang. Wie kann sie mir sagen, es sei falsch? Dich zu lieben, war nie ein Fehler. Nicht wirklich."

Sie merkte selbst, wie undeutlich ihre Aussprache geworden war und die Erkenntnis, dass es egal war, weil sie ohnehin nie wieder eine Antwort erhalten würde, traf sie noch mehr. Die Kälte in ihr breitete sich nochmals aus, während sie schluchzte und ihrem Mann gestand, dass sie einfach nicht wisse, wie sie jemals jemanden so lieben sollte wie ihn. Als sie sich hilflos über ihre Wangen strich, bemerkte sie plötzlich ein sanftes Flattern, das die Luft kaum wahrnehmbar aufwirbelte. Mit weitaufgerissenen Augen starrte sie auf den dunkelblauen Schmetterling, der sich auf einer der Primeln niedergelassen hatte und dort ausharrte.

Obwohl ihr Kopf sich wehrte, wallte abrupt eine Erkenntnis in ihr auf: Sie würde nie allein sein. Nie wirklich. Egal, wie oft sie sich so fühlte. Hendrik würde sie ewig begleiten. Ihre Liebe war echt. Noch heute.

Gretel spürte, wie ein Seufzen ihre Kehle hinaufsteigen wollte und blinzelte verwirrt, als ihr Blick plötzlich wieder klar wurde. Der Schmetterling auf dem Grab verblasste allmählich und sie nahm erneut Florian und Anna am Altar stehend wahr. Eine leise Melodie wurde auf dem Klavier geklimpert und sie musste sich auf die Worte konzentrieren, die sanft durch die Kirche schwebten. Augenblicklich krampfte sich ihr Herz wieder zusammen, als sie begriff, dass die Sängerin fragte, ob man jemals schon so geliebt hätte, dass sich alles drehen würde und man nicht wüsste, wie einem geschehe. Nach einem weiteren Blick auf das Brautpaar sammelten sich erneut Tränen in ihren Augen, denn alles in ihr schrie von Zeile zu Zeile lauter eine Zustimmung. Die beiden waren ein Traum, wie sie sich anschauten und alles um sich herum vergessen hatten. Trotzdem schnitt der Schmerz des Verlustes ein weiteres Mal tief in ihr Herz und sie fühlte sich so einsam wie lange nicht mehr. Hastig versuchte sie, sich daran zu erinnern, dass es sich am heutigen Tag nicht um sie drehte.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now