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Wie eingeschüchtert Erika neben mir gesessen hat, während Flo sich in den Sandkasten gesetzt und Kontakt zu den anderen Kindern gesucht hat. Im letzten Augenblick verhinderte sie ihr Kopfschütteln und schob sich den letzten Bissen ihres Kuchens in den Mund. Die junge Blondine hatte ihr Leben so maßgeblich verändert, dachte sie automatisch und ihr Blick huschte zu Florian, der sich offenbar bereitmachte, jetzt seine Rede zu halten.Stundenlang hatte sie ihm dabei geholfen, die Worte zu sortieren und eine Rede zu formulieren. Weiterhin machte ihr Herz einen Hüpfer in ihrer Brust, wenn sie daran dachte, was er seiner Frau vor den versammelten Gästen sagen wollte. Dabei sah er genauso verunsichert aus, wie seine leibliche Mutter, fiel ihr auf. Obwohl sie sich vornahm, diese Erinnerung nun ad acta zu legen, schwirrte ihr Kopf zurück zu diesem Nachmittag...

„Woher wusstest du, wo du uns finden kannst?" Sie ließ sich neben Erika auf der Bank nieder und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu, während sie ansonsten Florian beobachtete.

Ihr Sohn plapperte aber schon mit einem Jungen und kurvte mit dem Spielzeugauto über den Sand, sodass sie sich traute, der blonden Frau ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, die wirkte, als wäre sie etwas befremdet. Nun wandte sich Erika jedoch auch ihr zu und sie zuckte mit den Schultern. „Hendrik. Er hat mir einen Zettel gegeben, wo eure Adresse drauf steht. Falls mal was ist mit einem Freier und ich kurzfristig Schutz brauche. Ich hab sie die Notiz beim Umzug wiedergefunden. Keine Angst. Hab sie weggeworfen."

Offenbar hatte Erika bemerkt, dass Gretel die Tatsache nicht begeisterte, dass ihr Mann ihre Adresse weitergab. Sie schluckte diese Erkenntnis mühsam hinunter, ehe sie eine zustimmende Bewegung machte. Dann seufzte sie und strich sich mit der Hand durch ihre Haare. „Und jetzt gehst du weg und lässt dein bisheriges Leben hinter dir."

„Ja. Mein Opa ist gestorben. Hat mir sein Haus vererbt." Gretel nickte nur, obwohl sie registrierte, dass Erikas Gelassenheit nicht echt war. Ihr Blick folgte dem der jungen Frau und fiel auf Florian, der jetzt begonnen hatte, Sand in einen Eimer zu schaufeln. „Er ist bestimmt ein toller kleiner Junge."

Automatisch bejahte Gretel und ihr Blick wanderte zurück zu Erika, an deren Mundwinkeln ein leichtes Lächeln spielte. Obwohl sich diese offenbar nichts von ihren Gefühlen anmerken lassen wollte, verriet ihre Körperhaltung, dass sie sich dafür mühen musste: Ihre Rechte zupfte am Holz der Bank, auf der sie saßen, und zitterte leicht. Unwillkürlich wallte Bewunderung durch Gretel. Sie wusste nicht, ob sie den Schneid gehabt hätte, sich nochmal zu vergewissern, dass es ihrem Kind gutging. Schon die Tatsache, mein Leben aufzugeben, fiele mir schwer. Aber gut, ich kann mir nicht vorstellen, wie Erikas Leben bis jetzt war.

Ein Seufzen drang über Gretels Lippen, ehe sie mit den Schultern zuckte. „Er kommt bald in die Ganztagsgruppe im Kindergarten, weil ich dann wieder arbeiten gehe."

„Und Hendrik? Wo ist er? Ich hab ihn ewig nicht gesehen." Sobald diese Worte ausgesprochen waren, biss sich Erika auf die Unterlippe und Gretel merkte, dass sie die Brauen hochgezogen hatte, zurückgewichen war und Florians Erzeugerin anstarrte.

„Er ist momentan nicht zuhause." Mehr werde ich unter keinen Umständen sagen, egal wie ungläubig sie gerade wirkt. Offenbar hatte auch ihr schärferer Ton dazu geführt, dass Flos biologische Mutter nur nickte und sich wieder Flo zuwandte. Für einen Moment schloss Gretel die Augen und versuchte, sich in den Griff zu bekommen. Erika war nicht Schuld daran, dass dieser Stachel nach wie vor tief saß. Denn seit dem Anruf an ihrem Geburtstag hatte sie nichts mehr von Hendrik gehört. Was hieß, dass er sich entweder jetzt an die Vorschriften hielt – oder in Schwierigkeiten geraten war.

Schnell verdrängte sie die Bedenken und lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf Erika, die ihre Unterlippe zwischen ihre Zähne gezogen hatte und darauf herumknabberte. Kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie vielleicht ein wenig über Florians leibliche Mutter erfahren sollte, um ihrem Sohn von seiner Erzeugerin erzählen zu können, sollte er irgendwann Fragen haben. Doch bisher hatte Flo noch keine Ahnung davon, dass die Frau ihn nicht geboren hatte, die ihn aufzog.

Flüchtig streifte ihr Blick reflexartig ihren Sohn und Gretel vergewisserte sich, dass er ok war. Doch sie konnte ihn nicht sehen. Bevor sie darüber nachdenken konnte, sprang sie auf die Beine. „Florian? Flo?"

Sie streckte sich und hob den Kopf, um den Spielplatz besser im Blick zu haben und ihren Sohn entdecken zu können, doch er verbarg sich weder um oder auf dem Spielhaus. Wie von der Tarantel gestochen lief Gretel los. Er musste irgendwo sein! Sie hatte ihn doch nur kurz aus den Augen gelassen! Ihr Herz pochte panisch in ihrer Brust und ihre Stimme überschlug sich immer wieder, während sie nach ihm rief.

Das alarmierte offenbar auch eine andere Mutter, die bisher auf einer anderen Bank in ihr Buch vertieft gewesen war. Sie sprang ebenfalls auf die Füße und spurtete zu Gretel. „Wie sieht er aus?"

„Blaue Latzhose. Halblanges, blondes Haar. Dunkelblaue Augen. Zwei Jahre alt." Sie ratterte die Daten herunter und sah sich währenddessen weiter um. Doch plötzlich erstarrte Gretel. „Ich ... Oh Gott, ich kann mich nicht erinnern, welche Farbe sein Pullover unter der grünen Jacke hat. Was ... Wie ... Ich habe ihn vor ein paar Minuten noch selig im Sandkasten spielen sehen..."

„Ganz ruhig. Wir finden ihn. Weit kann er nicht sein. Zwei ist er, sagen Sie?" Gretel bejahte und drehte sich nochmal im Kreis. Auch bei der Schaukel war er nicht. Vielleicht hat er sich in den Büschen um den Spielplatz verkrochen?

Sie schenkte der anderen Frau keine Aufmerksamkeit mehr, sondern lief um den Kinderspielplatz, um unter und hinter sämtliche Sträucher zu sehen. Währenddessen rief sie wiederholt seinen Namen und mit jedem Schritt schnürte sich ihre Brust immer weiter zu. Tränen brannten in ihren Augen und sie machte sich schwere Vorwürfe, dass sie sich von Erika so ablenken lassen hatte, statt wie sonst neben ihm im Sandkasten zu sitzen.

„Gefunden!" Der Ruf zerriss die Stille und Gretel wirbelte zu der Frau herum, die ihr geholfen hatte. Diese deutete in Richtung des Bolzplatzes, der sich dem Spielplatz fast anschloss. Auf der abgewandten Seite des Platzes sah sie ein kleines Kind stehen. Wie der Blitz rannte Gretel los und schon während der Junge deutlicher wurde, liefen ihr die Tränen über die Wangen.

Ihre Lunge brannte vor Erschöpfung, als sie neben ihm in die Knie fiel und ihren Sohn in ihre Arme riss, der sie völlig verdattert anschaute. Gretel vergrub ihr Gesicht an seinem Hals und atmete hektisch seinen Duft ein, während sich ihr rasendes Herz langsam wieder beruhigte.

Dennoch war sie noch zittrig, als sie sich zurücklehnte, um ihrem Kind ins Gesicht zu sehen. Automatisch scannte ihr Blick ihn auf irgendwelche Verletzungen. „Mama? Ok?"

„Ich habe mir Sorgen gemacht, Raupe. Ich dachte ... du darfst nie wieder so weit von mir weglaufen, ok? Nicht, ohne um Erlaubnis zu fragen." Flo schob seine Unterlippe nach vorne und schien verstehen zu wollen, wieso sie so aufgebracht war. Er hatte seine Stirn gerunzelt, ehe sie sich glättete und er nickte. Als er seine kleine sandige Hand hob, um ihr über die Wange zu streicheln, fischte Gretel danach und drückte einen Kuss darauf, ohne sich darum zu kümmern, dass sie vollkommen dreckig war. Ich hätte den ganzen Sandkasten für diesen Moment ausgeleckt.

Sie zog ihn wieder an sich und wollte ihn einfach nur halten, doch Florian wandte sich in ihren Armen, sodass sie ihn unwillig losließ. „Guck."

Erst jetzt fiel ihr die Gruppe auf, die auf dem Platz Fußball spielte und nun begriff sie, was Flo angezogen hatte. „Sie spielen Ball, Raupe. Gefällt dir das?"

Er drehte sich wieder zu ihr und seine leuchtenden Augen verrieten ihr die Antwort bereits, ohne, dass sie seine Zustimmung hören musste. Sie ließ sich auf den Hosenboden fallen und zog Florian auf ihren Schoß. Er schmiegte seinen Rücken an ihre Brust, während sie den Kopf auf seine Schulter legte. Das war knapp. Ich hatte noch nie solche Angst.

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Gretel - Das bin ichDonde viven las historias. Descúbrelo ahora