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Gretel beobachtete die Blicke, die Florian und Anna sich zuwarfen und ihr ging das Herz auf. Die Gefühle, die die beiden verbanden, waren nur zu deutlich für jedermann sichtbar und sie schluckte, während sich ihre Finger erneut fester um das Taschentuch schlossen. Kaum vorstellbar, wie viel Macht ein einzelnes Gefühl über die Menschen hatte und wie erfüllend es war, wenn man es mit einem anderen teilen konnte.
Abermals lief ein Schauer durch sie und kurz war ihr, als würde sie Wärme um ihre Schultern wahrnehmen, als sie sich an den Mann erinnerte, der es mit ihr geteilt hatte. Obwohl er so lange schon weg war, meinte sie ihn immer wieder zu spüren. Gerade heute war ihr das bereits mehrmals so ergangen. Während sie beobachtete, wie das Brautpaar den Worten des Priesters lauschte, wanderten ihre Gedanken zu dem Moment, als diese Liebesgeschichte angefangen und sie ihre Schwiegertochter das erste Mal gesehen hatte...

Sie schloss die Haustür auf und seufzte, als sie aus der drückenden Sommerhitze in den kühlen Flur ihres kleinen Einfamilienhauses treten konnte. Die Arbeit war heute fordernd und die Menschen im Supermarkt waren ebenfalls mies drauf gewesen, weil die Schwüle allmählich auf die erhitzten Gemüter drückte.

Sie musste gestehen, dass sie das verstehen konnte. Auch ihr war es viel zu warm und sie sehnte sich nach einer kühlen Brise. Doch die Luft schien sich in den Straßen und zwischen den Häusern zu stauen. Ihr Blick fiel wie an jedem Tag auf die Bildergalerie an der Wand, als sie ihre Taschen auf den Boden stellte, aus ihren Sandalen schlüpfte und genüsslich stöhnte, weil ihre Fußsohlen den kühlen Holzboden trafen. Automatisch schob sie mit der Fußkante Florians Turnschuhe beiseite und erstarrte, als sie ein zweites Paar entdeckte, das weder ihr noch ihrem Sohn gehörte. Ach ja, heute kommt Anna zum ersten Mal zu uns. Seine Projektpartnerin, die in ihren Augen mehr Interesse bei Flo geweckt hatte, als es für das Projekt nötig gewesen wäre.

Kurz überlegte sie, ob sie die Treppe hinaufsteigen und an seiner Zimmertür klopfen sollte, entschied sich aber mit einem Kopfschütteln dagegen. Sie würden bestimmt bald herunterkommen, denn Flo hatte sicherlich die Haustür ins Schloss fallen hören. Dann würde sie das Mädchen schon kennenlernen, von dem Flo jetzt immer öfter sprach. Ein Lächeln huschte auf ihr Gesicht, während sie sich die Taschen schnappte, durch den breiten Torbogen in ihren Wohnbereich mit der abgetrennten Küche und der Essecke trat. Ihr knurrte der Magen, weil der Duft des mitgebrachten chinesischen Abendessens sich sofort im Raum verteilte.

Hoffentlich kamen die beiden bald runter. Ansonsten würde sie das Essen nochmal in die Mikrowelle schieben müssen. Was im Grunde auch kein Problem war. Doch so wäre es bequemer. Kurz schaute sie aus der großen Fensterfront in ihren geliebten Garten und schätzte ab, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie ihre Pflanzen gießen konnte. Da sie jedoch zu dem Schluss kam, dass es mindestens weitere zwei Stunden knallheiß auf ihre Beete scheinen würde, durchquerte sie den Raum und betrat die kleine Küche, die sie irgendwann mal austauschen sollte. Doch schon bei dem Gedanken wollte alles in ihr widersprechen.

Deswegen schob sie es vor sich her wie so vieles andere. Wenigstens hatte sie sich mittlerweile von Hendriks Motorrad getrennt. Obwohl sie an diesem Tag nochmal bittere Tränen vergossen hatte. Ein Seufzen entrang sich ihrer Kehle und sie begann, die verderblichen Lebensmittel in die Gefrierfächer zu verstauen. Heute musste sie zum Glück nicht mehr kochen, sondern konnte einfach wie jede Woche Montag etwas von Florians und ihrem Lieblingschinesen bestellen und es auf dem Weg nach Hause abholen. Wie ich es getan habe. Nur hatte ich vergessen, dass Anna heute da sein wird.

Reflexartig zuckte sie mit den Schultern. Heute war eigentlich gar nicht so ihr Tag. Im Prinzip würde sie sich lieber aufs Sofa verkrümeln und dort versumpfen. Aber das ging einfach nicht. Sie zuckte zusammen, als plötzlich jemand die Hand auf ihre Schulter legte und fuhr herum. Florian schien ebenso erschrocken gewesen zu sein wie sie, denn er starrte sie mit großen Augen an und presste sich seine freie Hand auf die Brust. „Woah, Ma! Wo warst du mit deinen Gedanken? Ich hab dich mindestens schon fünfmal angesprochen!"

Gretel murmelte eine Entschuldigung, sah sich um und runzelte die Stirn, als sie Florians Gast nicht entdecken konnte. Ihr Sohn war ihrem Blick offenbar gefolgt, denn er erklärte: „Anna kommt gleich runter. Sie ... hm ... musste noch duschen. Ist was passiert in der Schule. Und sie hat sich so unwohl danach gefühlt, dass ich gesagt hab, sie kann sich hier frischmachen. Stört dich doch nicht, oder?"

„Nein, natürlich nicht. Welchen Vorfall?" Sie sah, wie die Augen ihres Sohnes zugleich betrübt als auch wütend aufblitzten, und konnte es ihm nicht verdenken, nachdem er ihr erzählt hatte, was Anna passiert war. Automatisch schüttelte sie den Kopf und seufzte. Das arme Mädchen.

Das gerade mit zögerlichen Schritten durch den Türbogen zur Küche trat. Anna zupfte mit den Händen am Saum ihrer Tunika und schien sich nicht sonderlich wohlzufühlen, wie ihre eingesunkenen Schultern und die leicht gerunzelte Stirn verrieten. Sofort flog dem Mädchen Gretels Herz zu, das nur als hübsch bezeichnet werden konnte.

Demnach fiel ihr Lächeln herzlich aus, als Anna zu ihnen in die kleine Küche trat und verunsichert zu Florian sah, dessen Augen prompt aufleuchteten. „Hallo, Frau Gruber."

Ihre Worte untermalte Anna damit, dass sie ihre zittrigen Finger ausstreckte, die sie nur zu gerne ergriff. „Nein, bitte. Nenn mich nicht Frau Gruber. Da fühle ich mich gleich nochmal um 20 Jahre älter. Ich bin Gretel. Ok, eigentlich Margarethe. Aber nur meine Eltern nennen mich so – wenn ich was ausgefressen habe." Gretel freute sich, als die Anflüge eines Lächelns sich auf Annas Gesicht zeigten und sie nickte. „Gut. Da wir das geklärt haben: Flo, magst du bitte den Tisch decken? Anna, ich wusste leider nicht, was du gerne beim Chinesen isst und ich hoffe, du bist mit meiner Auswahl zufrieden."

„Oh, äh. Ich bin nicht so wählerisch. Ich mag nur keinen Fisch oder Meeresfrüchte. Egal. Äh..." Gretel bemerkte, wie Florian grinste und Anna ihn wieder verunsichert anschaute, ehe ihr Sohn sich an ihr vorbeischob und die Teller aus dem Oberschrank holte. Sie wandte sich ab und kramte nach Besteck, das sie Florian wortlos auf die Teller legte, und merkte, wie Annas Blick an ihrem Rücken klebenblieb. Sie wies Florian an, ihr ebenfalls noch ein paar Teller zu reichen, und bedankte sich, als er ihrer Forderung sofort nachkam. Indessen hörte sie, wie Flo Anna in den Essbereich bat und sie fragte, ob sie etwas trinken wolle.

Erneut knurrte ihr Magen und sie beeilte sich, die zum Glück noch dampfenden Speisen auf das Geschirr zu verteilen. Sie spürte den Luftzug, als Flo die Küche ein weiteres Mal betrat, Gläser und Getränke holte und verkniff sich ein Lächeln. Nicht, dass er sonst nicht half. Aber dann eben weniger bemüht. Vor allem, weil er nochmal hereinkam und ihr zwei von den Tellern abnahm, bevor er sich zu ihr beugte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte. „Danke, Ma. Dass du ihr gezeigt hast, dass an ihr nichts auszusetzen ist."

Bis sie ihm antworten konnte, war er schon wieder draußen. Sie schüttelte den Kopf, schnappte sich die restlichen Speisen und folgte ihrem Sohn, der Anna bereits Wasser eingoß.

Gretel - Das bin ichOù les histoires vivent. Découvrez maintenant