Seine Worte klangen sanft und sie nickte nur kurzangebunden. Was sollte sie auch anderes tun? Sie murmelte, er solle ihr folgen und wandte sich ab, um durch den großen Torbogen in ihren Wohnbereich zu treten. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie seine Schritte hinter sich vernehmen. Warum ihr Herz dabei stolperte und dann zu rasen anfing, verstand sie nicht. Aber es war so.

„Setz dich doch schon mal. Ich ... hm ... hol noch ein Weinglas?" Sie wusste, dass es unwahrscheinlich kindisch war, ihn nicht anzusehen. Ihre Scham war gerade schlicht zu greifbar, um seinem Blick zu begegnen. Darum atmete sie fast erleichtert aus, als sie seine Zustimmung hörte und in der Küche verschwinden konnte.

Sie streckte sich kopfschüttelnd und holte einen Weinkelch aus dem Hängeschrank über der Spüle. Anschließend wollte sie den Raum wieder verlassen, als sie bemerkte, dass sich tatsächlich etwas Staub auf dem Glas abgesetzt hatte. Sie starrte auf den Dreck und schluckte. Erst jetzt ging ihr auf, dass sie offenbar so lange nicht mehr mit jemanden bei sich zuhause Wein getrunken hatte, dass ihre Gläser noch sauber waren. Nur das eine, das ich ab und an nutze.

Hastig wandte sie sich der Spüle zu und drehte den Wasserhahn auf. Sie befeuchtete ihren Spüllappen und gab einen Tropfen Spülmittel ins Glas. Wie eine Besessene schrubbte sie den Schmutz ab, um das Zeugnis ihrer Einsamkeit zu beseitigen. Ihre Sicht verschwamm ein wenig, weil sich nun doch Tränen in ihren Augen sammelten. Mühsam hielt sie sie zurück. Als sie endlich das Gefühl hatte, dass es ihr gelungen war, riss sie sich zusammen. Im Stillen dankte sie Niklas dafür, dass er sie in Ruhe gelassen hatte, und angelte nach dem Geschirrhandtuch.

Nachdem sie das Glas abgetrocknet und wieder das Gefühl hatte, Nick gegenübertreten zu können, ging sie zurück in den Wohnraum. Sie bemerkte, wie sich sein Kopf zu ihr drehte und er sie musterte. Augenblicklich war der Knoten in ihrem Hals wieder da. „Alles gut?"

„Ja ... nur ... nur das Glas war schmutzig. War lang nicht mehr in Benutzung..." Sie beobachtete, wie er nickte und sein Blick zu den zwei Weinflaschen auf dem Tisch wanderte. Eine war schon geleert. Von der zweiten schwamm bereits ein Teil in ihrem Glas. Betroffen biss sie sich auf die Unterlippe und griff nach dem Rotwein, um ihrem unverhofften Gast einzugießen. Dabei schien sich sein Blick wieder in ihre Haut einzubrennen. Doch er schwieg. Sie reichte ihm sein Glas, ließ sich neben ihm aufs Sofa gleiten und rang mit sich, ihren Kopf zu heben und ihm in die Augen zu sehen. Du bist echt unmöglich! Reiß dich endlich zusammen!

„Hey." Jetzt ruckte ihr Blick doch zu ihm, als er zusätzlich eine Hand auf ihr Knie legte und sie schluckte. „Erzähl."

Hilflos schüttelte sie mit dem Kopf, konnte nun die Tränen aber nicht mehr zurückhalten. Das Haus war einfach unerträglich leise, seit sie von Florian und Anna aus Stuttgart zurückgekommen war. Dennoch hatte sie nicht die Kraft, so zu tun, als wäre sie ok. Sie war nicht ok. Und das hätte sie jedem in ihrem Umfeld gezeigt. Sie schluchzte auf, als Nick sein Glas auf den Couchtisch stellte und sie in seine Arme zog. Sie spürte seine Wärme. Wie sie auf sie überspringen wollte. Hastig biss sie sich auf die Unterlippe, um die Töne zu ersticken, die sich in ihrer Kehle sammelten. Sie hasste es, sich so zu fühlen. Das sanfte Streicheln ihres Rückens brach jedoch ihren Widerstand und sie merkte, wie er von ihr abfloss, und sie gegen seine Brust sank. „Schon ok."

Sie schüttelte mit dem Kopf und nuschelte: „Ich bin gar nicht der Typ für viele Tränen."

Niklas murmelte eine Zustimmung und sie wunderte sich, wie er sie verstehen konnte. Dass er es trotzdem tat, brachte eine winzige Stelle in ihr zum Glühen. „Ich ... wieso sollte ich heute feiern? Ich bin einsam, egal, wie viele Menschen ich noch um mich häufe. Meine beste Freundin ist frischverliebt. Und ich freu mich für sie. So sehr. Doch es tut weh, weil ... Flo und Anna sind nochmal so viel mehr zusammengewachsen. Sie sind so toll zusammen, waren sie schon immer. Aber ich bin allein. Das ist ok. Meistens. Heute nicht. Morgen wieder."

„Ja. Das ist ok." Sie spürte, wie er weiterhin gelassen über ihren Rücken streichelte und plötzlich nahm sie seinen Herzschlag wahr. Das stetige Ko-Gong-ko-Gong füllte sie mit jedem Pochen mehr und brachte das Glühen in ihr dazu, einen Lichtbogen zu schlagen, der immer weitere Risse in den Eispanzer in ihrer Brust verursachte. „Aber du bist nicht allein, Gretel. Ich bin hier."

Jetzt drang doch ein Seufzen aus ihrem Mund und sie schüttelte hastig den Kopf, als Emmy sie musterte. Zum Glück bat der Fotograf sie nun, sich um das Brautpaar zu scharen, um ein paar Gruppenfotos zu machen. Sie stellte sich also neben Florian und lächelte ihn an, als er den Arm um ihre Schultern legte. Sie wollte ihre linken gerade um seine Taille schlingen, als der Fotograf sie bat, zu warten. Augenblicklich hielt sie mitten in der Bewegung inne und wartete darauf, dass er ihr weitere Anweisungen gab. Doch zu ihrer Überraschung wandte sich der Mann ab und lief zu seiner Tasche mit der Ausrüstung. Er zog einen Bilderrahmen hervor und ihr Blick jagte zu Florian, nachdem sie erspäht hatte, was sich darauf befand: Es war das Bild seines Vaters, wie er sich in seiner Lederjacke grinsend an sein Motorrad lehnte. „Er gehört dazu. Oder?"
Automatisch nickte sie und bemühte sich, nicht loszuweinen, weil sich ihre Kehle so zusammenzog, als sie den großen Bilderrahmen entgegennahm und ihn sich vor die Brust hielt.

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Gretel - Das bin ichWhere stories live. Discover now