Frost

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Yoongi blinzelt. Besonders, wenn er nur kurz geschlafen hat, muss er sich danach wieder zusammensetzen. Wie ein Puzzle. Während er schläft, springt er aus sich heraus, wie ein Gelenk aus seiner Kugel. Wenn er aufwacht, sind da nur nicht ortbarer Schmerz und Befehle, die nicht richtig weitergeleitet werden. Als wäre sein Körper eine Hülle, ein bloßes Kostüm, das er nachts zum Schlafen ablegt, muss er erst wieder hineinsteigen und den Reißverschluss zuziehen, bevor er sich bewegen kann.

Dieses Mal ist es etwas anders. Dieses Mal gibt es zumindest eine Erklärung für den Schmerz. Er ist im Sitzen vor dem Bett eingeschlafen. Hockt auf dem Boden und liegt mit dem Oberkörper auf dem Rand der Matratze. Den rechten Arm hat er unter den Kopf geschoben. Der linke ist weit ausgestreckt. Nur einige Millimeter trennen seine Fingerspitzen von Park Jimins leicht geöffneter Hand. Er liegt in Yoongis Bett auf dem Rücken, mit dem Kopf auf dem Kissen und schläft tief und fest. Neben seinem Gesicht liegt ein feuchter Waschlappen, an dem Blut klebt. Und daneben ein Kühlpack. Etwas weiter Richtung Yoongis Hand liegt ein Fläschchen mit Desinfektionsmittel. 

Wie immer wirft die kleine Nachttischlampe ihr treues orangenes Licht über die Szenerie der Verwüstung. Es ist noch nicht richtig hell draußen. Man hört Vögel aus den Baumkronen im Innenhof. Es ist die blaue Stunde. Der Moment zwischen Nacht und Dämmerung. 

Yoongi blickt an seinem ausgestreckten linken Arm hinab. Ringsum um seine Fingernägel und darunter klebt geronnenes Blut. Er bewegt sie probeweise ein bisschen. Krümmt sie und ballt eine Faust. Dann drückt er sich von der Matratze hoch und lässt den Kopf kreisen. Seine rechte Schulter fühlt sich an, als würde in ihr ein Messer stecken. Er hat sich in dieser Haltung so sehr verspannt, dass ihm übel wird, sobald er versucht, eine Gegenbewegung zu machen. 

Aber vielleicht ist es auch nur das Leichenmädchen. Vielleicht sitzt sie jetzt auf einer einzigen Schulter wie ein Käuzchen, das ihm ins Ohr flüstert, dass bald jemand sterben wird. Er hat Jimins Hand gehalten. Langsam kommen die Erinnerungen daran, wie er Jimins Wunden versorgt hat, zurück. Doch er weiß nicht mehr was sie gesprochen haben, bevor der Schlaf über sie hereingebrochen ist. Wahrscheinlich gar nichts. Das ist oft so. Auch nach der Panikattacke gestern Abend ist er erstmal eingeschlafen. Mentale Belastung ist genauso gut eine körperliche Anstrengung. Es ist ganz normal, wenn du danach zusammenbrichst. Sein Kopf hat zugemacht. Und Jimins auch. Es ist gut, dass er schläft. 

Yoongi kann sich nur noch daran erinnern, wie er gestern mit schmerzverzerrtem Gesicht über sich ergehen lassen hat, dass Yoongi seine Schürfwunden abtupft. Ja, vermutlich haben sie wirklich nicht mehr geredet. Doch sie müssen. Yoongi hat so viele Fragen an ihn. Die er stellen muss. Damit das Erlebnis von gestern Abend sich nicht unbeobachtet in Jimins Erinnerung festbeißt. Das wird es sowieso. Doch er kann nicht zulassen, dass Jimin es einfach so verdrängt. Yoongi weiß, was dann passiert. Im schlimmsten Fall verlierst du einen Teil deiner Persönlichkeit. Und der wahre Min Yoongi wünscht sich vielleicht Gesellschaft. Doch die möchte er nicht von dem Teil von Jimins Person, den er nach dieser Erfahrung vielleicht versucht, von sich abgespalten.

Jimin sieht schlimm aus. Er hat eine tiefe Schramme an der rechten Seite seines Kinns und eine weitere an der Schläfe. Um die Wunden herum blühen großflächige Entzündungen. Die ganze Hautpartie ist gerötet. Außerdem hat er Quetschmale am Hals. Man erkennt genau, wo die Finger des Kerls zugedrückt haben. Und es sind erst ein paar Stunden vergangen. Erst in einigen Tagen wird man sehen, was die Hände dieser Männer wirklich angerichtet haben. Doch vielleicht ist nichtmal das das Schlimmste. Das Schlimmste ist, dass die Blutergüsse wieder verschwinden werden. Dass schon bald optisch nichts mehr daran erinnern wird, was Jimin heute Nacht widerfahren ist. Die Male auf seiner Seele wird niemand sehen, solange er sie nicht zeigt.

Yoongi konnte es nicht verhindern. Er war zu spät. Er konnte die Täter davon abhalten, ihre Tat zuende zu bringen. Doch der schlimmste Teil der Tat war zu diesem Zeitpunkt bereits geschehen. Jimins Willen war schon gebrochen worden, bevor Yoongi dazwischen gehen konnte. Und das hinterlässt die Wunden, die nicht verheilen.

Yoongi zieht sich auf die Bettkante und setzt sich schwerfällig auf den Rand der Matratze. Jimin spürt die Bewegung. Er hat nicht tief geschlafen. Seine Augen flattern auf wie die Flügelbewegung eines Schmetterlings. Yoongi sieht in seinem leeren Blick, dass auch er für eine Sekunde nicht weiß, wo er ist. Da liegt Schrecken und Verwirrung in seinen Augen. Aus einem Reflex heraus streckt Yoongi den Arm aus und streicht Jimin mit dem Handrücken über die Wange. Als seine Finger seine Haut berühren, zuckt Jimin unmerklich weg, doch im selben Moment erkennt er ihn. Seine trockenen Lippen spannen sich zu einem kraftlosen Lächeln. Yoongi erwidert das Lächeln. Sie sehen sich an. Jimin trägt immer noch sein Hemd mit den Plastiksteinchen. Sie wirken billig und blind.

"Schlaf", wispert Yoongi. "Es ist alles gut..."

Jimins Augen driften wieder zu. Sein Kopf sinkt zur Seite und seine Atemzüge werden wieder tiefer. Wenn er aufwacht, wird er sich nicht an diesen Blickwechsel erinnern. Aber Yoongi wird ihn behalten. Diesen Moment. Er bleibt noch ein bisschen auf der Bettkante sitzen, um das Polaroid im Album seiner Erinnerungen entwickeln zu lassen. Wenn wir uns einmal in einen Menschen verlieben, dann wird für immer etwas von diesem Gefühl in uns zurückbleiben.

*

Scream harder, NovemberWhere stories live. Discover now