Peep

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Du kannst die Scheiße nicht ausatmen. Das Gefühl, das ein akuter Depressionsschub in dir auslöst. Yoongi nennt es den Blue Pain. Der Blue Pain liegt dir auf der Lunge. Wahrscheinlich raucht er deswegen. Weil es ihm die Illusion gibt, er könnte irgendwas gegen das drückende Gefühl tun. Doch der Rauch, der aus seinen Lippen quillt, ist immer nur weiß. Er mischt sich mit seinem Atem, der in der eiskalten Nachtluft gefriert. Er ist niemals blau. Der blaue Schmerz bleibt in der Lunge zurück.

Es ist erst früher Abend und es ist noch kaum jemand unter der Brücke. Ein paar Pep-Kinder, Kim Taehyung läuft irgendwo rum... aber weder Jungkook noch Jimin. Yoongi hockt auf einem der abgefuckten Sofas, die sie über die Jahre hinweg vom Sperrmüll gerettet haben, und brennt mit der Glut seiner Zigarette Löcher in das Polster. Über den Bluetooth Lautsprecher, den irgendeins der Pep-Kinder mitgebracht hat, dudelt das neue Album von Lil Peep. Es fuckt Yoongi so ab. Die Scheibe ist gestern rausgekommen. Am 15.11. Weil er gestern auf den Tag genau zwei Jahre tot war. Yoongi hat es auch gestern schon runtergeladen. Doch obwohl sein Handy jetzt wieder Saft hat, hat er sich noch nicht dazu überwinden können, es anzumachen.

Yoongi hat Lil Peep irgendwann im Sommer 2017 für sich entdeckt. Juli oder so. Damals, als er richtig am Boden war. Als er jeden Tag darüber nachgedacht hat, sich das Leben zu nehmen. Oder zumindest an den Tagen, an denen er klar genug war, um überhaupt einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Es gibt Tage, an denen du sogar zu tot bist, um dich selbst umzubringen. Peep war das Licht gewesen. Das ihn aus dem Nebel gezogen hat. Yoongi hatte damals etwas gebraucht, an dem er sich festhalten konnte. Als er schon im Begriff war zu merken, dass Drogen eigentlich Treibsand sind. 

Musik. Musik war das, was ihn am Leben gehalten hat. Heute noch am Leben hält. Es ist eine der zwei Drogen, die dich aufbauen. Die zweite ist Liebe. Aber Liebe hat mehr Nebenwirkungen als Musik. Ein guter Song ist wie ein Rausch. Ein guter Song kann dir genauso das Gefühl geben, es mit allem auf der Welt aufnehmen zu können. Yoongi hatte damals keine Worte für seine Gefühle. Doch Peep hatte sie. Er war genauso abgefuckt wie Yoongi. Doch er hat es zu seiner Waffe gemacht. Den Erfolg aus dem gezogen, was ihn kaputt gemacht hat. Die Drogen. Sein Vater. Die Menschen um ihn herum, auf die er aufpassen wollte, die ihn aber nur ausgenutzt haben. Mit Peep war das Wort Zukunft in Yoongis Leben gekommen. Genau wie der blauhaarige Barista aus dem Black Leaves, war Peep einer von Yoongis Sorte gewesen, die es geschafft hatten.

Yoongi hat es erst am 16.11.2017 erfahren. Einen Tag danach. Er hat im Wohnzimmer auf der Couch gelegen, Fernsehn geguckt und einen Joint geraucht, weil sein Vater nicht zuhause war und er nichts anderes vorhatte. Als jemand auf seiner Twitter Timeline darüber geredet hat, hat er es zuerst für einen schlechten Scherz gehalten. Doch dann hat er ziemlich schnell die Links zu den Eilmeldungen gefunden. Die alle auf Englisch waren. Yoongi kann nicht besonders gut Englisch. Vieles hat er aus Peeps Lyrics gelernt. Weißt du, wie das ist, wenn man versucht, eine lebenswichtige Information aus einem Text herauszufiltern, den man nicht versteht? Die Buchstaben von dem Kauderwelsch, das ihm Google Übersetzer ausgespuckt hat, sind vor Yoongis Augen verschwommen. Doch ein unmissverständlicher Satz kam immer wieder vor. Überdosis mit 21. Am 16.11.2017 war auch Yoongi noch 21 gewesen.

Er kann sich noch daran erinnern, wie er in die Küche gegangen ist und aus dem Vorrat seines Vaters eine Flasche klaren Schnaps genommen hat. Natürlich eine saubillige von der Hausmarke des Supermarkts nebenan. Er hat sie in einem Zug halb leer getrunken. Und anschließend auf den Küchenfußboden gekotzt. Hat es nicht aufgewischt. Ist in sein Zimmer ins Bett und hat stundenlang dagelegen, an die Decke gestarrt und versucht zu heulen. Aber um zu heulen, musst du irgendwas fühlen. Und da war einfach gar nichts mehr gewesen. Nur noch Leere. "I'm still trying to wrap my head around the fact that he's gone", hat irgendjemand auf YouTube kommentiert. Yoongi hat die Redewendung erst in diesem Zusammenhang kennengelernt. Und es ist das Treffendste, was er je gehört hat. Jemand ist gestorben. Und du musst deinen Kopf aufreißen und versuchen die zwei Hälften irgendwie um den Gedanken zu legen, dass er nicht mehr da ist. 

Scream harder, NovemberWhere stories live. Discover now