Higher Than Hope

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Yoongi krallt sich an der Kante der verkommenen, bordeauxroten Couch fest. 

Er liegt auf der Seite, seine Wange drückt sich in den abgewetzten Plüschbezug und er hat die Illusion, dass er jede einzelne der künstlichen Fasern spüren kann. Sie bohren sich in seine Poren. Er wächst irgendwie mit dem Polster zusammen. Es zieht an seinem Gesicht. Schon wieder. Wieso reißt Ketamin ihm immer das Gesicht ab? Irgendetwas drückt ihn ganz tief hinten gegen die Lehne der Couch. Er hat die Beine angewinkelt, aber sein Rücken und sein Hintern liegen gefühlt viel tiefer als der Rest seines Körpers. Seit wann fällt die Couch nach hinten ab? Als würde jemand von vorne schieben. Trotzdem muss er sich festhalten. Hat das Gefühl, jeden Moment von der Sitzfläche zu fallen. Und er ist sich absolut sicher, dass da kein Boden mehr ist. 

Wasser. 

Die Couch steht im Wasser und die Strömung ist richtig schnell. Die scheiß Skateboards. Es hört sich an, als würde er direkt unter der Halfpipe liegen. Als würden die Skater Ollis über sein Trommelfell ziehen. Er brauch 'ne Kippe, aber er kann die Kante von der Couch nicht loslassen, weil er sonst ins Wasser fällt. Obwohl, vielleicht bleibt er ja mit dem Gesicht daran hängen. Die Fasern des Couchbezugs schieben kleine Widerhaken in seine Haut.

Er war seit Jahren nicht mehr so hart drauf. Aber high sein ist auch wie Fahrrad fahren. Du verlernst es nicht. Er weiß, dass er noch alles im Griff hat. Er darf jetzt nur nicht darüber nachdenken, dass er es besser nicht getan hätte. Dass es eine saudumme Aktion war, die Line zu ziehen. Aber es war die einzige Möglichkeit, Jungkook irgendwie näher zu kommen. Die zweite Line hat Yoongi weg gemacht, die dritte haben sie sich geteilt. Sie haben das gleiche Röhrchen benutzt, das iPhone zusammen festgehalten. Yoongi bereut es nicht. Und doch hasst er sich dafür. Wenn er die Couch loslässt, dann fällt er ins Wasser. Dann kippt der Trip.

Jungkook liegt auf der Couch gegenüber. Er liegt auf dem Rücken und starrt an die Decke. Welche Decke? Sie sind doch draußen. Er starrt hoch in Richtung Brücke. Hört den Autos zu. Die alle irgendwo hinkommen, während sie hier liegenbleiben. Wer weiß, was er gerade denkt. Yoongi kann nur sein Profil sehen. Seine markante Nase. Jungkooks Arm hängt von der Couch. Zwischen seinen Fingern brennt eine Zigarette runter. Er kann auch nicht rauchen. 

Das Licht der Straßenlaternen reflektiert auf seiner öligen Haut und bringt sie zum glänzen. Er schimmert, als hätte er Goldstaub auf den Wangen. Auf der Stirn. Yoongi gafft ihn an. Bestimmt schon seit 7 Stunden. Seit 7 Stunden hat er nicht mehr geblinzelt. Aber muss er auch nicht. Jungkook ist so scheiße schön, wie er da liegt. Lederjacke, Bikerstiefel, viel zu großer Hoodie, Blue Jeans. Ein Bein angewinkelt, das andere durchgestreckt. Weil er den Arm mit der Zigarette so komisch über die Sofakante baumeln lässt, ist sein Kapuzenshirt ein bisschen hochgerutscht und man sieht den Rand von seinen Calvin Kleins. Es gibt Yoongi ein Gefühl, das mit Durst vergleichbar ist. Der Durst zieht an ihm, zieht ihn nach vorne, während die Hände der Droge ihn gleichzeitig nach hinten gegen die Lehne drücken. Sein rechtes Nasenloch brennt und es prickelt in seiner Stirn wie in einem Glas Sprudel. Sein Septum Ring juckt. Er will kratzen, doch er kann den Arm nicht heben.

Yoongi erinnert sich an die Kinderbibel, die er als Schulkind hatte. An das Bild von der Kreuzigung. An den geschundenen Leib Christi, der mit nichts bedeckt war außer einem Lendenschurz. Rückblickend war Yoongis Faszination für dieses Bild das erste sichere Anzeichen dafür, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Nicht nur der nackte Männerkörper. Das Blut und die Wunden. Etwas Düsteres. 

Yoongi hat immer Trost in morbiden Dingen gefunden. Erleichterung. Jungkook sieht für Yoongi gerade aus wie Jesus. Er hat das gleiche Gefühl wie damals, als er das Bild stundenlang angesehen hat. Er hat es haargenau vor Augen und legt es mit dem Anblick von Jungkook übereinander. Es hat etwas Tragisches und gleichzeitig etwas Erhebendes. Er ist krank, wirklich, einfach geisteskrank. Jungkook ist der Heiland der Pep-Kinder, der Jesus einer modernen Subkultur. Grunge Aesthetic ist dieses romantische Ideal für spätpubertäre Mittzwanziger, die behütet in ihrem Bett liegen und durch Tumblr scrollen. Der Scheiß ist hier real. Der Tod ist wunderschön, bis er zärtlich mit dem Finger an deine Tür tippt. Tick tick. Wir sterben im Hier und Jetzt und suhlen uns in unserem Selbstmitleid. Wir schmeißen die Scheiße, um uns gegenseitig einen vorzuleiden. Wir sind die Kinder Gottes. Und spucken dem Leben ins Gesicht.

Yoongi will aufstehen und zu ihm rüber gehen. Er hat ein unheimliches Bedürfnis nach körperlicher Nähe gerade. Durst. In den Knochen. Wenn er jetzt wieder den Arm um Jungkook legen würde, würde er vielleicht mit ihm verwachsen. So wie mit der Couch.

Ailee läuft ins Bild. 

Scream harder, NovemberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt