Kapitel 10.

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Finn zog mich mit sich in die Innenstadt. Er wirkte heute ganz anders, als ich ihn in Erinnerung hatte und das letzte mal, wo ich ihn gesehen habe, war nur zwei Wochen her. Er wirkte auch mich irgendwie erwachsener. Okay, er war 19, da sollte man das schon erwarten können, aber heute wirkte er irgendwie stiller und reifer. Nicht mehr die große Klappe, wie vor ein zwei Wochen. Finn lachte nicht und schien in Gedanken versunken zu sein. Ich mochte diese Stille nicht.

"Was haben wir denn vor?", fragte ich ihn, als er mich durch eine Menschenmenge zog und nicht einmal daran dachte meine Hand los zu lassen.

Ich hasste Menschenmengen. Wenn irgendwo zu viele Menschen auf einmal waren, fühlte mich total eingeengt und schlecht. Klar, es gab da ein paar Ausnahmen, aber meistens fühlte ich mich gefangen. Mein Instinkt riet mir jedes mal, dass ich bloß schnell durch diese Menge rennen laufen sollte. In Menschenmassen fühlte ich mich erst recht klein und alleine.

Finn riss mich aus den Gedanken, in dem er mich um die nächste Ecke und weg von den ganzen Menschen zog.
"Bleibt noch eine Überraschung. Du wirst es noch früh genug mitbekommen." Ich hörte aus seiner Stimme heraus, dass er Schadenfreude empfand. Wie gemein das war, das er mir das nicht einfach erzählen wollte. Ich meine, er konnte doch denken, dass ich keine Überraschungen dieser Art mochte.

"Hatte ich schon mal erwähnt, dass ich Überraschungen über alles hasse?", sagte ich genervt.
"Bis jetzt noch nicht, aber weißt du, wie egal mir das ist? Es dauert auch nicht mehr lange, bis du es heraus bekommst." Finn lachte laut auf.
Arschloch. Ich musste leider auch lachen, weil er mich damit anstecken konnte. Als er lachte, war da wieder ein Teil von dem Finn, den ich vor zwei Wochen kennengelernt hatte. Vielleicht versteckte er den alten Finn ja nur ein wenig oder er zeigte mir nur einen anderen Teil von sich.

Gefühlte 3 Stunden später, was in Wirklichkeit wahrscheinlich nur 20 Minuten gedauert hatte, standen wir vor einer riesigen Kletterhalle. Klettern? Im Ernst? Was für eine geniale Idee. Ich hätte Finn niemals so eingeschätzt. Ich war wirklich überrascht. Und das bemerkte Finn ziemlich schnell.

"Das ist jetzt nicht unbedingt das, was du erwartet hättest, kann das sein?"
Ich musste kurz überlegen.
Hatte ich denn überhaupt etwas erwartet? War ich mit irgendwelchen Erwartungen mit gegangen?
"Nein. Ich hab eigentlich nichts erwartet. Aber klettern ist super. Das hab ich zuvor noch nie gemacht. Bist du immer so spontan oder war das alles geplant?", gab ich als Antwort zurück.
"Kommt drauf an."
"Worauf?"
Doch anstatt mir zu antworten, zog er mich grinsend durch die Tür und ließ meine Frage eiskalt im Raum stehen. Keine Antwort ist auch eine Antwort, nicht wahr?

Finn suchte sich einen Angestellten, der sich mit den verschiedenen Möglichkeiten auskannte, und klärte mit diesem alles. Ich stand bloß daneben und überlegte, was ich eigentlich hier machte.

Zwar war Finn mir auf Anhieb total symphatisch gewesen, aber trotzdem kannte ich ihn noch so wenig, um sagen zu können, wie er wirklich drauf war. Das er heute anders auf mich wirkte bewies dies ja schon. Ich konnte ihn nicht gut einschätzen, wusste nicht, was seine verschiedensten Mimiken bedeuteten und was er wirklich mit seinen Worten meinte. Alles war so anders an ihm. Ich kannte keinen seiner Freunde oder sonst irgendwen. Und das machte mir zu schaffen. Ich hasste es, wenn ich nicht ein bisschen Kontrolle hatte. Und nein, ich war kein Kontrollfreak, aber bei unbekannten Menschen wollte ich schon eine gewisse Kontrolle haben, damit ich mit ihnen umgehen konnte und ihnen nicht hilflos gegenüber treten würde. Wenn ich Finn besser kennen würde, wäre alles leichter und ich würde mir nicht so viele Gedanken um diese Dinge machen. Vielleicht, und das hoffte ich stark, war er für die Rolle meines besten Freundes bestimmt. Und das würde bedeuten, dass ich ihn gut kennen würde und ihn verstand. Anders als jetzt. Dann könnte ich mir Gedanken über wichtigere Dinge machen.

"Erde an Sophie!" Finn wedelte mit seiner Hand vor meinen Augen herum. "Wollen wir in einen Outdoorpark oder lieber hier an den Kletterwänden klettern? Also ich wäre für klettern an den Kletterwänden."
"Bin ich auch für."
Ich war nämlich eine Niete in Sport, zumindestens im Schulsport. Und drinnen klettern klang für mich schon einfacher. Trotzdem müsste Finn sich auf etwas gefasst machen. Wahrscheinlich müsste er mich vor mir selbst retten. Oder er musste sich vor mit retten. Ich lachte. Die Vorstellung,wie ich oben hing und nicht mehr runter kommen konnte, war einfach total realistisch. Typisch ich. Aber ich würde es mir selbst zeigen und alles gut überstehen. Zumindestens hoffte ich das.

Wir waren gerade eine knappe halbe Stunde an den Anfängerwänden dran, als Finn vorschlug, dass wir beide ja an eine etwas höhere Wand konnten. Ich stimmte zwar zu, aber im insgeheimen überkam mich eine Welle großer Furcht. Die Anfängerwände waren ja noch leicht, aber die richtigen Wände sahen ziemlich gefährlich aus. Naja, nicht direkt gefährlich, aber ziemlich hoch. Und ich hatte Angst, dass ich in dieser Höhe abstürzen würde.

Finn wollte unbedingt, dass ich als erstes eine der Wände hoch kletterte. Mir machte der Gedanke Angst, dass bloß Finn mich unter Kontrolle hatte. Er war der einzige, der mir helfen konnte, aber auch der einzige, der mich fallen lassen konnte.
Es gehörte viel Mut dazu, aber ich traute mich tatsächlich ihm diese gewisse Kontrolle über mich und meine Sicherheit zu übergeben. Ich überließ ihm die Oberhand. Und das wunderte mich. Normalerweise hätte ich mich gesträubt, als jemanden so etwas zu erlauben.

"Alles klar. Von mir aus, kann es nun los gehen.", sagte ich hastig. Ich wollte es hinter mir haben. Und das so schnell wie möglich.

Finn zog mich mit jeden Knauf höher. Und ich bekam mit jedem Knauf mehr das Gefühl von Freiheit. Ich fühlte mich so frei wie lange nicht mehr. Die Höhe machte mir keine Angst mehr und ich wusste, dass ich noch nicht allzu hoch war um mir jeden Knochen zu brechen. Außerdem wusste ich, dass der Sicherheitsgurt und das dazugehörige Seil mich vor einem harten Aufprall schützen würde. Ich bekam ein Hochgefühl.
Bis ich abrutschte.
Und Finn mich im letzten Moment noch gekonnt auffing.

Gemeinsam alleinsam (Sierra Kidd FF)Where stories live. Discover now