Vesper - Abend

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»Und nähme ich die Flügel des Morgenrots und ließe mich nieder am Ende des Meeres, auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich ergreifen. Würde ich sagen: Finsternis soll mich verschlingen und das Licht um mich soll Nacht sein! Auch die Finsternis ist nicht finster vor dir, die Nacht leuchtet wie der Tag, wie das Licht wird die Finsternis. Du selbst hast mein Inneres geschaffen, hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter. Ich danke dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin. Ich weiß es genau: Wunderbar sind deine Werke!«

Das waren der Äbtissin Abschiedsworte an Lila. So verstand Lila es zumindest. Nach der Vesper verlief alles wie gewohnt, bis sich die Nonnen hinlegten und noch ein Licht brannte. Niemand schien sich um dieses Licht kümmern zu wollen, das Lilas Schlafstätte wie die Tür in ein leichtes Licht tauchte. Wie jeden Abend hatte Lila ihre Kutte abgelegt, doch statt sich wie sonst im Nachthemd schlafen zu legen schlüpfte sie nun in die Klamotten, die sie bei ihrer Ankunft getragen hatte. Die wenigen Dinge, die sie bei sich gehabt hatte, wanderten in ihren Rucksack und leise verließ Lila das Dormitorium.

Leise schlich sie die Treppe hinab und erreichte auf leisen Sohlen die Tür zur Küche. Auch hier brannte noch Licht.

In der Küche war niemand mehr, doch ein Zettel lag auf der Arbeitsfläche. Darauf waren eine Zugverbindung und eine Fahrkarte abgedruckt. Als Lila den Zettel anhob, um ihn einzustecken, kam darunter ein Brief zum Vorschein.

Liebe Lila,

wir alle wünschen dir alles Gute auf deinem weiteren Weg. Nicht alle würden das offen so sagen, aber im Geiste sind wir alle irgendwo mit dir.
Wir wünschen dir Kraft und Zuversicht und Gottes Güte, die dir deinen Weg weisen mögen, und wir hoffen, dass dein Mut und deine Entschlossenheit dir zu eigen bleiben und dein Leben bewegen und erleuchten.

Lila, du bist besonders. Du bist einzigartig. Und du bist ein ganz wunderbares Mädchen. Und wir sind überein gekommen, dass deine Eltern dich nicht verdient haben. Ich kenne die Schulleitung aus München, denn sie sind Ordensschwestern. Sie haben mir davon erzählt, wie sich deine Eltern in der Schule verhalten. Und ich habe selbst gesehen, wie dich deine Mutter behandelt, als sie dich hier hergebracht hat.

Normalerweise sind die Eltern, die ihre Töchter herbringen enttäuscht oder wütend. Manchmal versuchen sie mich sogar davon zu überzeugen, ihre Tochter sei vom Teufel besessen und wir sollten ihn ihr austreiben. Aber deine Mutter war teilnahmslos, dein Vater gar nicht da. Durchs Autofenster hindurch habe ich einen einzigen Blick auf sie bekommen und trotzdem weiß ich, dass du sie nicht interessierst. Und das ist zutiefst unchristlich, ja unmenschlich. Niemandem ist dein Schicksal zu wünschen - und das sieht hier jede Schwester so.

Und doch weißt du etwas nicht, das du vielleicht wissen solltest. Denn unsere Gemeinschaft besteht aus Frauen wie dir. Wie du waren einige von uns vor fünfzig Jahren. Und wie andere Besucherinnen von uns waren andere von uns vor fünfzig Jahren. Ich selbst wurde Schwester in diesem Orden, weil meine Familie mich verstieß, nachdem ich keinen Mann heiraten wollte. Hier in diesem Kloster hörte ich Gott zu und verstand, was andere nicht verstanden: Meine Vorliebe für Frauen ist nicht gottlos sondern genauso Gottes Werk. Doch weil andere das nicht verstehen, muss man vorsichtig damit umgehen, es anderen nicht auf die Nase binden und wissen, in welchen Situationen ein Kampf niemandem nützt.

Das lehren wir die Mädchen, die sonst herkommen. Sich bedeckt zu halten gegenüber denen, die daran Anstoß nehmen, wie man ist, und sich gerade denen zu öffnen, die einen akzeptieren können.

Doch ist das christlich?

Christus starb am Kreuz, um die Sünden der Menschheit zu begleichen. Sein Tod symbolisiert das Schlechte in der Gesellschaft, die vor ihm war. Jesus legte Finger in Wunden, er sagte: Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich. Und er sagte: Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden.

Jesus Christus ist der, dem wir nachfolgen. Er gibt uns ein Vorbild. Und sein Vorbild ist, die Wahrheit Gottes auszusprechen, die uns nicht gefällt. Er hätte auch sagen können: Selig die Homosexuellen, denn ihnen gehört die Liebe.

Doch das hat er nicht gesagt. Aber als Christin ist es doch meine Aufgabe, genau das dann zu sagen, oder nicht? Was heißt es, Christin zu sein?

Jesus hat alle Menschen lieb. Das ist ein Satz aus der Kindertheologie, doch nicht nur dort sollte man ihn hören. Denn Jesus sagte: Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter. Und der Wille unseres himmlischen Vaters ist, die Wahrheit nicht zu verschweigen aus Angst.

Wir haben unsere Art gefunden, wie wir unser Christsein zeigen. Aber wir haben uns versteckt.

Lila, du bist mutig, für deine Überzeugungen einzustehen. Du kannst, was wir nicht wagen mögen. Du kannst zeigen, dass Christin zu sein nicht bedeutet, sich anzubiedern und in die Gesellschaft zu passen.

Du musst zeigen, dass Christus die Menschen zum Umdenken bewegen wollte. Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen. Darum vergiss niemals, wer du bist. Du hast hier Steine ins Rollen gebracht. Kleine Steine zwar, aber dass es Dinge gibt, die wir nicht verstehen und die trotzdem real und vorhanden sind, das hast du uns beigebracht. Du kannst Dinge bewegen, Lila. Und in dir spüre ich den christlichen Geist, der uns bewegt.

Die Fahrkarte bringt dich nach München, wo du von einer unserer Ordensschwestern abgeholt wirst. Nur dieses eine Mal beteiligen wir uns an einer Flucht, weil wir dir mit deinen Eltern helfen wollen. Und weil wir noch einmal in Christi Namen handeln wollen, werden wir das offen tun.

Heute Nacht wirst du verschwinden und morgen Nachmittag wird es jeder wissen. Aber keiner wird dich finden, der dich nicht finden soll. Mit deiner Zustimmung würden wir mit den Ämtern kooperieren, damit du auch von ihnen geschützt wirst. Wenn du das nicht willst, können wir dich auch eine Weile illegal verstecken, bis du 18 bist. Und wenn du beides nicht möchtest, kannst du hierbleiben. Dieses Kloster steht dir immer offen.

Wir wollen dir helfen, Lila, damit du uns helfen kannst. Und wir sind davon überzeugt, dass du uns helfen wirst, weil du damit auch dir selber hilfst.

Franz hat uns versprochen, dich zum Zug zu bringen.

Gib auf dich Acht.

Und vielleicht besuchst du uns irgendwann nochmal, um uns zu zeigen, wer Julian ist. Und vielleicht können wir dann verstehen, dass er Teil von Gottes Schöpfung ist.

Gott zum Gruße, möge er dich leiten und deinen Weg vor dir erleuchten,

Äbtissin Paula

Die Totenstille machte die Worte des Briefes noch unheimlicher. Lilas Misstrauen gegenüber der Fahrkarte war riesig. Alles hier war angerichtet zu ihrer Flucht. Die passenden Türen standen offen, die richtigen Lichter zur Sicht waren an. Würde sie nur einen Fuß aus dem Kloster setzen, dann würden wohl 20 Nonnen mit Kampfschreien über sie herfallen, sie zurückschleppen und festbinden.

Lila betrachtete die Fahrkarte vor sich. Sie galt ab Prien am Chiemsee. Ein kleines Stückchen Fahrt war es bis dahin schon. Und Franz sollte sie hinbringen. Eine Gänsehaut breitete sich auf Lilas Körper aus. Die Ungewissheit wurde größer. Was würde gleich passieren? Und was würde aus ihrer Familie werden, wenn sie das hier durchzog?

Nach ihrem Gespräch mit Franz heute Nachmittag war Lila eindeutig für die Option 1 im Brief. Und sie wollte das. Unbedingt. Sie wollte frei von ihren Eltern sein. Rechtmäßig. Und wie die Äbtissin ihr zugesprochen hatte, dass sie eine gute Christin war, weil sie anders war - das gefiel Lila.

Noch etwa zehn Minuten stand Lila in der hellerleuchteten Küche, las den Brief und überlegte. Dann faltete sie Brief und Fahrkarte vorsichtig zusammen und schob sie in den Rucksack. Leise schlich sie zur Tür, raus auf den Hof, die knarzende Tür leise wieder schließend, duckte sie sich und versuchte, sich zu orientieren.

Die Sonne war längst untergegangen, doch der Vollmond durchbrach die absolute Finsternis und schickte ein helles Licht auf den Weg, den Lila gehen musste. Immer, wenn sie an eine Kreuzung oder Gabelung kam, schoben sich Wolken vor den Mond, sodass nur ein Weg erleuchtet wurde und dieser Weg führte sie zum Hof von Franz und Victoria.

Auch hier brannte noch Licht in der Küche. Lila klopfte an die Haustür und trat ein.

Der MitternachtsexpressWhere stories live. Discover now