Non - Die neunte Stunde

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Der Nachmittag war bereits fortgeschritten. Es war gerade um die Zeit, als Lilas innere Uhr vermeldete, dass nun eigentlich Zeit für ein weiteres Gebet wäre. Franz und Lila saßen noch immer neben dem Traktor und lauschten dem Rauschen des Windes in den Ähren des Feldes und den Blättern der Bäume.

»Wenn ich das durchziehe, brauche ich einen Plan«, kam es Lila aus heiterem Himmel.
»Wie meinst du?«, fragte Franz.
»Naja, ich kann nicht einfach blind weg von hier. Ich muss das planen. Julian einbeziehen, vielleicht noch ein paar andere. Und wo will ich danach hin? Weil wenn ich zu Julian ziehe, finden mich meine Eltern sofort.«

»Na und? Du bist fast 18. Deine Eltern können dich zu nichts zwingen, was du wirklich nicht willst. Und wenn doch, dann gehst du zum Jugendamt.«
»Zum Jugendamt?!«
»Ja, zum Jugendamt«, antwortete Franz bestimmt. »Deine Eltern müssen dich unterstützen. Und wenn sie dich zuhause so vernachlässigen, kann man sie verklagen.«

»Aber ich will meine Eltern nicht verklagen. Ich will sie einfach hinter mir lassen. So wie sie mich. Einfach vergessen, dass es sie gibt.«
»Hm.«
»Ich will bei jemandem sein, wie Tante Lilly.«
»Und wo? In München oder woanders?«
»Wie woanders?«

»Naja, was ist mit wegziehen aus München. Nach Augsburg. Oder nach Regensburg? Oder ganz weit weg, nach Frankfurt, Köln, Stuttgart?«
»Und was ist mit der Schule?«
»Du kannst überall zur Schule. Und du kannst überall in Deutschland dein Abitur machen. Und wenn du es genug willst, dann wirst du zu jedem Problem eine Lösung finden. Du bist ein kluges Mädchen.«

»Lila lächelte. Würdest du mir helfen?«
»Ich würde dir zumindest helfen, deine Freunde in München anzurufen und mit ihnen einen Plan zu schmieden.«
»Wieso?«
»Wegen Anna. Weil wir damals für sie nicht da waren. Und weil man als guter Christ seinen Nächsten hilft.«

»Das hat Tante Lilly auch immer gesagt. Die Nächstenliebe ist das Wichtigste im Leben.«
»Dann war deine Tante Lilly eine sehr kluge Frau. Aber jetzt komm. Wir fahren zurück zum Hof und dort schauen wir dann, wie wir euch helfen können, ja?«

Gesagt getan. Zum Glück kannte Lila eine Telefonnummer auswendig - nämlich die Handynummer von Julian. Der Rest war ein Kinderspiel. Den ganzen Nachmittag lang telefonierte Lila mit ihren Mitschülerinnen oder mit ihrem besten Freund.

Für Lila war gleich klar gewesen, dass sie ihr Abitur nicht an dem katholischen Mädchengymnasium machen konnte. Nicht nach einer Flucht aus dem Kloster Heinebrück. Aber wohin sonst?

Glücklicherweise kam auch für Julian nicht infrage, weiter an jene Schule zu gehen. Erstens war er ein Junge und konnte deswegen schlecht auf eine Mädchenschule gehen und zweitens würde das Schuljahr für alle Beteiligten zur Hölle, wenn man sich ständig über das Queer-Sein stritt. Und glücklicherweise hatten Julians Eltern inzwischen insoweit eingelenkt, dass sie ihm das Junge-Sein nicht mehr austreiben wollten. Julian war die ganze Situation zwar immer noch sehr unheimlich, weil seine Eltern immer so merkwürdig auf ihn reagierten, aber besonders seine Mutter kümmerte sich um ihn.

Und genau deswegen war Julians erster Impuls, als er von Lilas Plänen erfuhr, sie bei sich aufzunehmen. Julian wollte auch nicht hören, dass Lilas Eltern sie bei ihm sicher finden würden. Er wollte auch die Schulunterlagen kopieren, die seine Eltern jüngst für seinen Schulwechsel ausgefüllt hatten. Allerdings war diese ganze Schulwechselgeschichte noch von Lilas Eltern abhängig. Und irgendwie kam es Lila nicht so vor, als ob sie das einfach mit ein paar gefälschten Unterschriften hinbekämen.

»Ich sag doch, ihr braucht das Jugendamt. Du schilderst denen die Situation, die geben dir für die letzten Monate einen Ersatzvormund oder so und dann läuft das«, erklärte Franz und sah Lila eindringlich an.
»Das geht bestimmt nicht so einfach. Und die Jugendämter sind bestimmt alle voll ausgelastet. Da kriegt man doch keinen Termin, und wegen einer solchen Lappalie schon gar nicht.«

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