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Es klopfte. Ich reagierte nicht. „Ich hoffe, du bist erträglich ohne Mittagessen?" Mein Kopf schnellte herum. „Finnley!" Der Blonde nickte. „Bist du soweit?" Entschlossen stand ich auf. „Ja. Bring mich hier raus." Er winkte mit der Hand. Ich folgte ihm vorsichtig. Der Gang war leer. Ungewöhnlich. „Wo sind die alle?" „Einige musste ich betäuben, andere sind Essen. Ein paar sind bei den Wehrmauern.", erklärte der Wolf knapp und lugte um die nächste Ecke, „Sauber." Schweigend lotste er mich durch das Labyrinth aus Gängen und Türen. Schließlich fanden wir uns in dunklen Gängen wieder. „Wo sind wir?", wisperte ich. „Im Berg. Es gibt unzählige Tunnel im Berg. Eine Abkürzung sozusagen." Finnley führte mich tiefer in die feuchten Flure. Durchgehend wurden diese von modernen LED-Schläuche an der Decke ausgeleuchtet. Wir waren vielleicht zwanzig Minuten unterwegs, da konnte ich bereits Tageslicht erkennen. Der Geheimtunnel endete vor einer Holzverstrebung, die von Efeu überwuchert war. Neben uns erstreckte sich die letzte Mauer. Es musste die Stelle sein, von der ich vor Wochen gestürzt war. „Bleib hier. Ich bin gleich zurück." Erst jetzt bemerkte ich die Waffe in Finnleys Hand. Er erkannte meinen Gedanken. „Keine Sorgen. Die Pistole ist mit Betäubungsmunition geladen." Er wuschelte mir durch die Haare. Darf ich anmerken, dass ich sowas hasste?

Finnley späte um die Ecke und lief los. Der Efeu ersteckte sich über mir und rankte sich am Berg nach oben. Praktisch ein natürlicher Sichtschutz. Durch ein paar Flecken konnte ich auf den Hof sehen. Der Lkw stand bereit. Ein paar Wölfe beluden ihn gerade. Finnley unterhielt sich mit dem Fahrer. Kurz blickte er in meine Richtung. Der Fahrer folgte seinem Blick. Ich erstarrte. Hatte er mich gerade verraten? Auf welcher Seite stand dieser Wolf eigentlich? Finnley schickte die restlichen Wölfe im Befehlston fort. Einen Moment später stand der Fahrer neben mir. „Hallo. Ich hörte, du suchst eine Mitfahrgelegenheit?" Grinsend folgte ich ihm zur Laderampe. Mein Begleiter und ich versteckten uns zwischen den Mehlsäcken. Der Motor wurde gestartet. Ich schloss zitternde die Augen. Hoffentlich ging das gut. Ich spürte feste Arme um mich. „Keine Angst. Der Lkw wird nie kontrolliert." Der Wagen stoppte. Finnley legte mir seinen Zeigefinger auf die Lippen. Eine Minute später setzte sich der Truck wieder in Bewegung. Der Wolf lächelte mir triumphierend zu. „Wir sind draußen." „Wohin fahren wir?" „Ins Industriegebiet. Dort erwartete uns Logan." Ich versuchte meinen Unmut runter zu schlucken. Warum um alles in der Welt Logan? Der Kerl konnte mich nicht ausstehen! Der Wolf neben mir kramte sein Smartphone aus der Hosentasche. Er baute es auseinander und zerbrach eine der beiden SIM-Karten in der Mitte.

Eineinhalb Stunden nach unserer Flucht hielt der Lkw abermals. Diesmal wurde er abgestellt. Also mussten wir da sein. Die beiden Türen vom Laderaum wurden geöffnet. Finnley schaute vorsichtig an den Mehlsäcken vorbei. „Komm. Wir verschwinden." Er packte mich an der Hand und zerrte mich hinter sich her. An der Ladekante checkte er nochmal die Lage bevor er mich weiter zog. Geduckt klettern wir von der Laderampe herunter. Der Wolf bedeutet mir leise zu sein. Ungesehen schaffen wir es bis zu den Gebüschen entlang des mannshohen Zauns. Dieser erstreckte sich natürlich über das ganze Gelände. Wieso sollte es ja auch einfach sein?

„Ich dachte, wir werden abgeholt?" Mein Komplize nickte. „Wir müssen noch zum Bahnhof. Dort erwartet uns das Rudel." Er zeigte auf das Gebäude gegenüber. Ich überlegte. Das war die optimale Chance. Das Bahnsystem der Stadt war wie ein Ring angelegt. Im Industriegebiet gab es zwei Haltestelle, Ost und West. Wir waren im Osten. Die nächste Station hielt beim Einkaufszentrum ‚Olymp'. Von dort aus konnte ich in die ganze Stadt gelangen durch das kreisförmige Bahnnetz unserer Stadt. Ich musste nur Finnley gleich am Bahnhof möglichst unauffällig entkommen.

„Los geht's!", riss mich Finnley aus meinen Gedanken ehe ich ihm durch das Tor des Geländes folgte. Sofort stieg mir der Geruch von Logans Rudel in die Nase. Wir liefen über die Schienen zum Parkplatz. Finnley bemerkte nicht wie ich auf dem Bahnsteig in die andere Richtung rannte. Gerade kam eine Bahn an, die Richtung Einkaufszentrum fuhr. Schnell verschwand ich im Zug und machte mich klein. Ich setzte mich absichtlich neben eine Frau mit einem Nebel aus Parfüm. Das machte meine Lokalisierung für die Wolfsnasen schwerer. Keine Minute später setzte sich die Bahn in Bewegung. Ich atmete beruhigt aus.

Am Olymp stieg ich aus und setzte mich auf die Bank. In zehn Minuten ging ein Zug zurück. Mal wieder eine Verzögerung im Fahrplan. Da hatte ich nochmal Glück gehabt.

Vom ‚Industriebahnhof Ost' zu Castle Sanguis, der Vampirburg, waren es zwanzig Minuten Fußweg. Ich konnte nur hoffen, dass Taylor dort zu finden war. Die Bahn fuhr ein. Ich ließ sie fahren. Wieso sollte ich es den Wölfen einfach machen? Verwirrt schnupperte ich an mir und seufzte. Meine Kleidung inklusive meiner Haare rochen nach diesem schrecklichen Parfüm. Pfui! Andererseits ein riesiger Vorteil. Die Wölfe würden mich so nicht sofort erkennen. Guter Dinge stieg ich in die nächste Bahn ein.

Wenig später lief ich Richtung Castle Sanguis. Sie befand sich auf dem Berg Vetus. Es gab eine befestigte Straße nach oben. Auf halben Weg ging in meinem Rücken die Sonne unter. Ohne den wärmenden Planeten wurde es schnell kälter. Die fehlende Jacke wurde zum Problem. Wieso hatte ich die nur auf der Wolfsburg vergessen? Neben mir tauchte eine hölzerne Sitzbank auf. Ich ließ mich darauf nieder. Die Sicht auf die beleuchtete Stadt war herrlich. Taylor hatte immer geschwärmt, dass Torrens bei Nacht vom Castle aus am Schönsten aussehen würde. Ich hatte ihn stets ausgelacht. Doch jetzt stimmte ich ihm voll zu. Trotz allem. Es war kalt. Saukalt sogar! Gerade wollte ich dem Pfad weiter folgen als zwei Scheinwerfer auftauchten. Das Auto fuhr ungeachtet an mir vorbei. Nach ein paar Metern stoppte es mit quietschenden Reifen. Die Fahrertür wurde aufgerissen. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen.

„Aaron!" Taylor fiel mir um den Hals. „Du bist total kalt! Los komm." Er ließ mich gar nicht zu Wort kommen. Ich setzte mich auf die Rückbank. Lewis, der auf dem Beifahrersitz hockte, und ich grüßten uns mit einem kurzen ‚Hallo'. Taylor fuhr eilig los.

Nach kurzer Fahrt begrüßte mich der Schlossherr auf Castle Sanguis. „Schön dich wiederzusehen, Aaron." „Die Freude ist ganz meinerseits, Trevor." Hinter ihm tauchte Tristan auf. „Hat dich Darwin endlich frei gelassen?" „So ähnlich." Taylor nahm mich an der Hand und führte mich ins Schloss ohne weiter auf seine Familie zu achten. Schweigend brachte er mich in eines der Gästezimmer. Die Tür fiel ins Schloss. Gleichzeitig drückte mich Taylor in einer kräftigen Umarmung dagegen. „Ich habe dich so vermisst!", wisperte er mir ins Ohr. Überrascht schob ich Taylor ein Stück weg. „Sorry.", murmelte mein bester Freund verlegen. „Kein Ding.", winkte ich ab. „Bist du OK?" Ich nickte. „Nichts passiert." „Ich meinte Darwin. Hat er..." Ich schüttelte den Kopf und begann zu erzählen. Taylor hörte aufmerksam zu.


Das Leben zwischen den StühlenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt