Vom Weg abgekommen Teil 1

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Erleichtert stieg Claribel an der Haltestelle vom Wagon und atmete durch.
Sie war es von ihrer Arbeit im Tales gewohnt, viele Menschen um sich zu haben. Aber so nah und kuschelig, wie auf dem vollbesetzten Wagon, musste es definitiv nicht sein.
Sie ließ den Strom an Arbeitern an sich vorbeiziehen, bevor auch sie sich entlang der Chimmy in Richtung Artamoturm aufmachte.

Das ganze Wochenende über hatte sie es noch nicht ganz glauben wollen, trotz der vielen Versicherungen von Augustus und Elva. Aber nun war sie auf dem Weg zu ihrem ersten Arbeitstag in Cliftons Werkstatt.
Aufmerksam sah sie sich dabei um. In der Woche zuvor, als sie diese Straße schon einmal entlang gegangen war, hatte sie keinen Blick für ihre Umgebung gehabt.

Das Luftschiffviertel war eines der größten Industrieviertel und Fabrik an Fabrik säumte die Hauptstraße, die an beiden Seiten der Chimmy entlang verlief.
Hohe Schornsteine stießen ununterbrochen graue Abgaswolken aus, ein Zischen, Hämmern und Brummen lag in der Luft, wie Ameisen liefen die Arbeiter geschäftig die Straßen und Wege entlang.
Mitten auf der Brücke stand ein Händler mit seinem Bauchladen und bewarb seine Zigaretten, Zigarren und Pfeifen. Ihm selbst hing dabei eine lange unbestückte Zigarettenspitze im linken Mundwinkel.

Rechts der Brücke stand der stadtbekannte Artamoturm.
Aber es war nicht seine Höhe, durch den er zum Wahrzeichen des Luftschiffviertels geworden war, sondern sein Aussehen.
Die Turmspitze bildete eine gigantische Bronzestatue eines Heißluftballons.
Angeblich war sie ein genaues Abbild des Heißluftballons, mit dem Artamo auf diesem Fleckchen Erde gelandet war.
Durch Lügen seines Stiefbruders vom Hof seines Vaters vertrieben, hatte er sich eine neue Heimat gesucht und hier gefunden.
Laut den vielen Erzählungen bekam Fumeville seinen Namen von den Bauern, die das umliegende Land besiedelt hatten und sich damit schon bald nach der Stadtgründung über den Rauch lustig machen wollten, der tagtäglich von der ersten Fabrik ausgestoßen wurde.

Woher die Arbeiter kamen, Artamo die Materialien und vor allem die Ideen hatte, fand man hingegen in den alten Büchern nicht.
Wahrscheinlich spielte es auch keine Rolle, ob Fumeville nun innerhalb von 150 oder 200 Jahren zu der heutigen Stadt anwuchs.
Artamo wurde als Stadtgründer und Pionier in Ehren gehalten.

Claribel bog nach rechts in die parallel verlaufende zweite Hauptstraße ein, lief weiter an der Chimmy entlang, bis diese kurz nach einer weiteren Brücke einen Bogen machte.
Die Straße führte geradeaus weiter und sie konnte bereits das O'Ryan-Luftfahrt-Gebäude sehen.
Sie spürte, wir ihr Herz anfing, schneller zu schlagen und das nervöse Kitzeln im Bauch zunahm. Nur noch wenige Minuten, dann war es endlich so weit und ihre Arbeit als Assistentin von Clifton würde tatsächlich beginnen.

Aufgeregt nahm sie bei den letzten Stufen immer zwei auf einmal und öffnete voller Elan die Werkstatttüre. In ihren Gedanken stieß sie freudig „Tada, da bin ich" aus.
Diese Zurückhaltung hätte sie sich jedoch sparen können, denn sie war alleine in dem großen, düsteren Raum.
Das morgendliche Tageslicht schaffte es noch nicht ganz durch den Smog und erhellte nur einen kleinen Bereich direkt um die Fenster.
Die Apparaturen auf den Tischen wirkten wie Schatten irgendwelcher Fantasiekreaturen, die nur darauf warteten, dass Claribel näher kam und sich von ihnen verschlingen ließ.
Die aufkommende Gänsehaut konnte sie nicht unterdrücken, nahm sich jedoch vor, an diesem Abend ein anderes Buch weiterzulesen. Eines ohne Monster, düstere Wesen und Zaubereien.
Zwar glaubte sie nicht an derlei Dinge, aber sie hatte viel Fantasie, die ihr hin und wieder auch mal einen Streich spielte.

„Clarice, guten Morgen. Pünktlich wie ein Beleuchtungswärter."
Mit einem breiten Lächeln stand Clifton im Türrahmen. Sein Gesicht wurde von einer Petroleumlampe neben der Türe angestrahlt, die er gerade angezündet haben musste.
Er zog seinen Zylinder vom Kopf, legte ihn auf das Schränkchen neben sich und setzte stattdessen eine Melone auf.
„Guten Morgen", gab Claribel zurück und überlegte, ob sie ihn erneut berichtigen sollte, was ihren Namen anging.
Doch es war Logan, der ihr diese Aufgabe abnahm.
„Guten Morgen, Claribel", wünschte er und betonte ihren Namen dabei besonders. Dann folgte er dem Beispiel seines Vaters, legte den Zylinder ab und setzte sich eine Ballonmütze auf.
„Guten Morgen", wiederholte Claribel, sich fragend, was es mit diesem Hutwechsel auf sich hatte.
Lange konnte sie sich darüber den Kopf jedoch nicht zerbrechen, denn Clifton klatschte laut in die Hände.
„Auf ans Werk. Entzündet die Lampen und öffnet die Fenster, damit Artamos Geist uns finden kann."

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