Claribels Welt Teil 2/5

40 9 30
                                    

Das rhythmische Rattern und gelegentliche laute Zischen der Lok, kündigte das Eintreffen der ersten Gäste an, nur Minuten bevor eine Gruppe Arbeiter eintrat.
Die Gesichter, Hemden und einstmals grauen Ballonmützen voller Ruß und Kohlestaub, ihre Goggles, die immerhin ihre Augen vor der Verschmutzung geschützt hatten, um die Hälse baumelnd und die Stiefel matschig. Schwatzend, lachend und gutgelaunt, setzten sie sich um zwei Tische herum.
Claribel hatte noch nicht alle Pale Ales gezapft, da kam schon die nächste Truppe und schnell füllte sich der Pub.

Sie legte eine neue Schellackplatte auf das Grammophon und betätigte die seitlich gelegene Kurbel. Selbst wenn die Musik nicht gegen die Unterhaltungen an den vollen Tischen ankam, hatte Leona darauf bestanden.
Wahrscheinlich dauerte es auch nicht mehr lange, bis die Männer und vereinzelten Frauen selbst damit anfingen Lieder zum Besten zu geben, was zu späterer Stunde und mit genügend Alkohol zu einem recht amüsanten Schauspiel werden konnte.

Erneut öffnete sich die Türe und Claribel hoffte darauf, endlich Elva und ihre Freundin Adella zu sehen. Einen Tisch für diese freizuhalten wurde zunehmend schwerer und bis die ersten Tische wieder frei wurden, konnte es noch dauern.
Doch es war ein Mann, der das Tales betrat.
Großgewachsen, sauber und ordentlich gekleidet. Eindeutig kein Arbeiter und interessiert musterte Claribel ihn, während er sich umsah und dann auf die Theke zusteuerte.

Statt eines Mantels trug er ein Cape, das er über die Schultern zurückschlug. Am Hals wurde es von zwei goldenen Ketten zusammengehalten. Darunter erkannte sie eine schwarze feine Hose, ein weißes Hemd unter einer schwarzen Weste und eine weiße Schalkrawatte. Seine Hände steckten in schwarzen Lederhandschuhen und auf seinem Kopf thronte ein hoher Zylinder, an dem neben ein paar Federn auch verschiedene Pins befestigt waren. Ein ganzes und ein halbes Zahnrad, ein Luftschiff, zwei Schlüssel, einen Kompass und einer, der aussah wie ein alter Fumie.
Definitiv ein Mann mit Geld.
Vielleicht ein Hunter? Den Pins nach für eines der Luftschiffunternehmen. Aber suchte er Arbeiter oder einen Abtrünnigen?

Der Zeitung nach häufen sich die Diebstähle in den Fabriken. Von Kleinteilen wie Zahnrädern und Nieten, über Werkzeuge, bis hin zu ganzen Rollen gewalztem Kupfer.
Die Polizei war nahezu machtlos, denn die Arbeiter mit den langen Fingern tauchten schneller unter als die Ratten. Also nahmen die Fabrikbesitzer die Sache selbst in die Hand und setzten ihre Hunter nicht nur darauf an, neue Arbeiter zu gewinnen, sondern eben auch auf die Diebe.
Doch die Auswirkungen reichten weiter, als die Zeitung berichtete.

Letzte Woche hatte Claribel miterlebt, wie Graysons Werkstattladen auf den Kopf gestellt worden war. Offensichtlich waren der Stadtteilordnungsmeister und seine Gehilfen auf der Suche nach Diebesgut gewesen.
Glücklicherweise hatten sie nichts gefunden und Claribel hatte die Materialien für ihren neusten Prototypen einen Tag später abholen können.
Woher sie in Zukunft die Rohstoffe für ihre Erfindungen beziehen sollte, würde man Graysons Laden wegen Hehlerei schließen, wusste sie nicht.

„Guten Abend."
Die tiefe Stimme des Fremden riss Claribel aus ihren Gedanken. Seinen Zylinder nahm er ab und legte ihn auf die Theke.
„Guten Abend", erwiderte sie. „Möchten Sie etwas trinken? Ich kann auch den Eintopf wärmstens empfehlen."
„Ein Pale Ale", antwortete er. Kritisch sah er über seine Schulter zur Eingangstüre, bevor er ein „Bitte" anhängte.
Seine Finger zupften dabei an den blankpolierten Knöpfen der Weste.

Auf Claribel machte er einen nervösen Eindruck und sie fragte sich, ob er doch kein Hunter war, sondern viel mehr vor einem solchen auf der Flucht.
Letztlich konnte es ihr egal sein. Er war ein Gast, und so lange er keinen Ärger machte, bediente sie ihn, wie alle anderen auch.

Für das Pale Ale bedankte er sich, an einem Gespräch hatte er offensichtlich kein Interesse. Schweigend starrte er in sein Glas, nahm hin und wieder einen Schluck und sah sich zur Eingangstüre um.
Eine Weile noch überlegte Claribel, was diesen Mann wohl ins Tales getrieben hatte, aber die anderen Gäste forderten schnell ihre Aufmerksamkeit.

STEAM TALESWhere stories live. Discover now