Claribels Welt Teil 2/5

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Elva und Adella mussten ebenfalls mit der Theke vorliebnehmen, da gerade alle Tische besetzt waren.
Aufgeregt erzählte Elva von ihrer neuen Anstellung, als Gehilfin des Schneiders Mister Davis.
„Ich werde für die Kurzwaren zuständig sein. Knöpfe, Garne, Reißverschlüsse, Borten und Bänder, aus denen die Kunden wählen können. Aber auch Nadeln, Kreide und Scheren für Mister Davis muss ich dabei haben."
„Du begleitest ihn dann zu den Schönen und Reichen?", fragte Adella mit großen Augen.
Mit einem stolzen Lächeln nickte Elva. „Ich werde also endlich wissen, ob ihre Toiletten wirklich goldverziert sind."

Der Fremde schnaubte, was nicht nur Claribel dazu veranlasste, sich ihm zuzuwenden, sondern auch Elva.
„Willst du etwas dazu sagen?", fragte Elva genervt und musterte den Mann ganz offen.
Claribel wollte sie zur Ordnung rufen; mit ihrem vorlauten Mundwerk würde sie sich irgendwann noch richtigen Ärger einhandeln. Aber der Fremden schien sich daran nicht zu stören.

„Nicht direkt", gab er zurück. „Aber warum willst du wissen, wie die Toiletten aussehen? Da gibt es sicherlich Interessanteres zu bestaunen?"
„Ach ja, und was?", wollte Elva wissen.
„Vielleicht der Nachttopf", antwortete der Unbekannte.
Irritiert sah Claribel zwischen ihrer Schwester und dem Mann hin und her, während die beiden nur den jeweils anderen ansahen und wie auf Kommando anfingen zu lachen.
Kopfschüttelnd ging Claribel zu einem der Tische, von dem ihr ein Arbeiter zugerufen hatte.


Um ein Uhr hatte Leona dafür gesorgt, dass die letzten vier Gäste nach Hause gingen, danach hatte Claribel aufgeräumt und den Pub ausgefegt.
Leighton hatte extra für sie noch einen Teller Eintopf aufgewärmt und war auf einen Plausch bei ihr in der Küche geblieben.
Gegen zwei Uhr morgens verließ Claribel dann das Tales und machte sich auf den Heimweg.
Die Lok tuckerte gerade vorbei und sie glaubte, einen einzelnen Fahrgast zu sehen. Liegend, vielleicht sogar schlafend.
Ansonsten waren die Straßen leer und sie erreichte ihr Wohnhaus, ohne auf jemanden zu treffen.
Mit den Gedanken bereits in ihrem warmen Bett, öffnete sie die Wohnungstüre und blieb noch mit der Türklinke in der Hand wie angewurzelt stehen.

Einen Moment starrte sie dem Fremden direkt in die Augen, die von der kleinen Petroleumlampe angestrahlt wurden, die er in der Hand hielt.
Dann bückte sie sich schnell und griff sich an den linken Stiefel. Tastend suchten ihre Finger nach der kleinen Handfeuerwaffe, während sie den Fremden nicht aus den Augen ließ.

„Ganz ruhig", sagte dieser und hob die Hände ein Stück. „Ich wollte dich nicht erschrecken."
„Bleiben Sie stehen." Ohne die Waffe erreicht zu haben, richtete sie sich wieder auf, als der Mann einen Schritt auf sie zumachte.
Sollte sie schreien? Oder zurücktreten und die Türe wieder schließen? Aber was war dann mit Elva?
Würde sie schnell genug einen ihrer Nachbarn aus dem Schlaf reißen können?

„Elva, kommst du mal bitte?", fragte der Mann ruhig.
Beim Namen ihrer Schwester richtete Claribel ihre Aufmerksamkeit wieder voll und ganz auf den Fremden. Wusste diese etwa, dass dieser Mann hier war? Und irrte sie sich oder war das der Mann aus dem Tales? Ohne sein Cape, die Weste und den Zylinder?

„Was denn?" Elva tauchte als Schatten im Türrahmen ihres Zimmers auf. „Oh, hallo Claribel."
„Ähm, hallo..." Claribel versuchte, das Gesicht ihrer Schwester in der Dunkelheit zu erkennen. „Was genau ist hier los?"
„Na ja. Augustus und ich verstehen uns gut und wir wollten unser Gespräch in Ruhe fortsetzen." Elva kicherte leise und trat weiter hinein ins Wohnzimmer und den Schein der Petroleumlampe. Augustus' Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und er legte einen Arm um Elva, sobald diese nahe genug bei ihm war.
„Ein wirklich nettes Gespräch."

Erneut kichernd drückte Elva ihm ein Küsschen auf die Wange.
Claribel wollte es gar nicht so genau wissen. Jetzt erst trat sie ganz in die Wohnung und schloss die Türe hinter sich.
Sie musste sich sehr zusammenreißen, um Elva keine Predigt darüber zu halten, wie unverantwortlich es war, einen wildfremden Mann mit in die Wohnung zu bringen. Auch wenn sie sich gut verstanden, wusste sie doch nichts über seine eigentlichen Absichten.
Zudem hatte Claribel auch noch das nervöse Verhalten Augustus' vor Augen, das er zumindest anfangs im Tales gezeigt hatte.

„Es tut mir leid. Es war nicht meine Absicht, dich zu erschrecken." Augustus trat erneut einen Schritt auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. „Ich bin Augustus."
„Claribel", entgegnete sie, wobei er das bereits wissen dürfte. Dennoch ergriff sie seine Hand und schüttelte sie kurz.
„Tut mir auch leid", meinte Elva. „Ich hab nicht damit gerechnet, dass du jetzt schon kommst. Aber du wirst uns den Rest der Nacht auch nicht mehr sehen."

Über ihr breites Grinsen konnte Claribel nur mit den Augen rollen.
„Ich werde gar nichts mehr sehen, denn ich gehe jetzt ins Badezimmer und dann ins Bett."
Sie griff nach den Streichhölzern auf der Kommode neben ihr und zündete damit eine bereitstehende Petroleumlampe an.
„Gute Nacht." Mit diesen Worten verschwand sie im Bad.
Nachdem sie sich gewaschen hatte, sah sie vorsichtig aus der Tür, bevor sie in ihr Zimmer huschte. Auf eine weitere Überraschung in dieser Nacht konnte sie gut verzichten.


Claribels Zimmer war eine Mischung aus Schlafzimmer und Werkstatt.
Ihr Bett stand in der rechten Ecke, direkt unter der detaillierten Zeichnung eines Uhrwerks, die sie zu ihrem neunten Geburtstag bekommen hatte.
Schon damals hatte sie sich mehr für Technik, Mechanik und die allgegenwärtigen Dampfmaschinen interessiert als fürs Kochen, Nähen und Musizieren, wie es bei Elva der Fall gewesen war.
Und seit damals war das Poster mit der Zeichnung das Letzte, das Claribel vor dem Einschlafen sah.
Der Kleiderschrank sowie ein offenes Regal mit einigen Büchern und verschiedenen Andenken rundeten den wohnlichen Teil des Zimmers ab.

Auf der linken Seite stand Claribels großer Schreibtisch, bestückt mit zwei Petroleumlampen und einem Vergrößerungsglas an einem schwenkbaren Arm.
In den beiden offenen Regalen die den Schreibtisch flankierten, standen verschiedenste Becher, Gläser, Schachteln, Fläschchen und Schatullen, gefüllt mit allerlei Materialien. Lederstücke, Zahnräder, Draht, Schrauben, Nieten, Papier, Werkzeuge, Chemikalien, Schnüre, Wachs...

Doch ihre größten Schätze bewahrte sie in der unscheinbaren Holzkiste auf, die halb versteckt unter dem Schreibtisch stand.
Ein kleiner Destillierapparat, eine Lötlampe und vor allem ihre eigenen Erfindungen und Aufzeichnungen.

Den Großteil ihrer Freizeit verbrachte sie in diesem Bereich ihres Zimmers, werkelte, forschte und experimentierte, um endlich diese eine Sache zu erfinden, ohne die die Welt nicht mehr auskommen würde.
Eine Erfindung, mit der sie sich einen Namen machen und vielleicht endlich ihren Traum leben konnte.
Geld verdienen mit dem, was sie liebte. Erfinden, konstruieren und erforschen.
Ein Traum, an dem sie festhielt, was auch immer da noch kommen würde. 

STEAM TALESWhere stories live. Discover now