Was zählt als "Soziabilität"?

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Ein guter Freund von mir aus der Uni ist autistisch, weiß jedoch nicht viel über das Thema Autismus im Allgemeinen. Das bedeutet nicht, dass er gar nichts weiß, denn immerhin ist er als autistische Person in unserer Welt aufgewachsen und scheint auch viel darunter zu leiden. Aber es wirkt so, als hätte er die Diagnose erhalten, aber abgesehen davon bisher nicht darauf gekommen war, sich abseits von dem, was Ärzte und Familie erzählt haben, sich selbst zu informieren und daher viel ableistische Mythen oder Denkweisen verinnerlicht hat. Ich glaube, man kann sagen, dass viele Menschen, die erst später und von selbst herausgefunden haben, dass sie autistisch sind, ironischerweise ein Spezialinteresse für Autismus entwickeln. Wahrscheinlich ist es weniger der Fall, denn es eine Diagnose ist, die man dir bereits als Kind aufgedrückt hat, ohne dass du etwas gefragt hast.

Wir haben mittlerweile viel über das Thema gesprochen, aber anfangs hat er sich nicht getraut, das Wort überhaupt auszusprechen und wollte, dass wir Code-Wörter oder Metapher verwenden. Zum Beispiel war es für ihn leichter, darüber zu sprechen, wenn wir nicht von "Autist*innen" (oder neurodivergenten Menschen im Allgemeinen), sondern "Aliens" gesprochen haben. Er ist nicht der einzige, den ich kenne, der das so bevorzugt: Meine Nachbarin mit der ich eng befreundet bin, benutzt die Alien-Metapher auch, wenn sie mit mir über das Thema spricht (und das tun wir regelmässig).

Dieser Freund hat viele Schwierigkeiten mit dem Thema. Ich merke, dass er scheinbar nie jemanden hatte oder nie auf die richtigen Ressourcen gestoßen ist, um ihn zu helfen, den Ableismus, den ich für zu selbstverständlich hält, zu hinterfragen. Das fängt schon damit an, dass er bisher immer von "autistischen und normalen Menschen" oder "Menschen, die anders sind" gesprochen hat, weil er die Begriffe und Konzepte "neurotypisch" und "allistisch" nicht kennt. 

Er hat sich immer mehr von allen in der Uni zurückgezogen, obwohl er die ersten Wochen und Monate eigentlich recht präsent war. Er kommt auch die meisten Tage nicht mehr. Er hat mir erzählt, dass er schlechte Erfahrungen mit anderen gemacht hat, von denen ich nichts mitbekommen hat. "und das nur, weil ich versucht habe, zu sozialisieren"

Bei dieser Diskussion über Sozialisation ist mir eins aufgefallen. Es heißt, dass autistische Menschen ein Problem mit "Sozialisation" haben. Dabei haben die meisten Menschen eine verzerrte Definition von "Sozialisation". Wenn zwei neurotypische Menschen sozialisieren, nennt man das Sozialisation. Wenn neurodivergente und neurotypische Menschen sozialisieren, nennt man das Sozialisation. Aber wenn zwei neurodivergente Menschen sozialisieren, zählt das als gar nichts. Viele Menschen, ob neurodivergent oder neurotypisch, nehmen Soziabilität zwischen neurodivergenten Menschen nicht als solche wahr.

Lachend hat er mir gesagt, "Wir haben gemeinsam, dass wir beide ein großes Problem mit Sozialisation haben". Das habe ich gar nicht so gesehen. Schließlich sozialisieren wir beide ziemlich viel: Wir diskutieren irl stundenlang bis es dunkel wird und selbst das hält uns eigentlich nicht auf, wir schreiben täglich/regelmäßig auf WhatsApp seitdem wir uns kennen, wir besuchen gemeinsam Museen, Verstanstaltungen, Orte,... Das alles zählt für mich als Sozialisation und sozialisieren tue ich nicht nur mit ihm, sondern auch mit anderen Menschen - wobei das auch nicht weniger "Sozialisation" wäre, wenn das nur mit einer Person ist.

Er meinte, dass seine Beobachtung war, dass ich mit Einzelpersonen kein Problem habe, es in Gruppen aber anders ist. Am Ende der Diskussion habe ich ihn gefragt: "Warum zählt Sozialisation zwischen Aliens für dich nicht als Sozialisation?" Und er wusste darauf keine Antwort.

Vor Kurzem ist mir dieses Phänomen mit einem anderen Freund, ebenfalls aus der Uni, aufgefallen. Mit diesem Freund bin ich immer zu sehen, was auch dadurch erklärbar ist, dass wir beinahe immer die gleichen Kurse haben. Das ist ebenfalls eine Person, mit der ich ständig rede, über ganz viele verschiedene Themen. Ich habe das Gefühl, wir können uns alles sagen, weil wir schon bereits so viel gesagt haben, also was für Geheimnisse soll es geben?

Beim Mittagessen hat mir erzählt, dass eine Person, von der er normalerweise glaubt, dass sie ihn hasst, weil sie ihn immer ignoriert, ihm "Hallo wie geht's?" gesagt hat, weil sie im selben Raum waren. Er hat kurz geantwortet und mir beim Erzählen gesagt "wow, ich habe noch nie so viel sozialisiert... genug für diese Woche". Also habe ich ihn darauf aufmerksam gemacht, dass wir beide schon die ganze Zeit sozialisieren und auch mit unserer gesamten Freundesgruppe. Wenn man sich anschaut, wer alles zusammensitzt, sind wir die sogar größte Gruppe. Sonst sitzen Menschen entweder alleine oder zur zweit und sind zu viert. Er ist einfach gar nicht jemand, der "nicht sozialisiert" und sich stattdessen in der Pause versteckt, weil er nicht mit dem Kontakt der Anderen klarkommt. Trotzdem dachte er das über sich, weil er nicht realisiert hat, dass er eine verzerrte Sicht von "Sozialisiation" hat. 

Für die meisten Menschen ist es erst dann "Sozialisation", wenn neurotypische Menschen involviert sind.

SaneismusWhere stories live. Discover now