Kapitel 22 - Familienbande

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„Wieso habe ich unsere Blutsverbindung nie gespürt? Und wenn wir doch eine Blutsverbindung haben, wieso konntest du mich dann nicht retten?"

„Familiäre Blutsverbindungen sind zwar stark und können auch, je nach Stärke der Beziehung, von Liebe getragen sein, doch die partnerschaftliche Liebe erzeugt viel mächtigere Blutsverbindungen. Ich spüre unsere Verbindung gut, doch wird sie nie so stark sein, wie die zwischen dir und André."

„Eigentlich logisch", mein André. „Ansonsten würde ja die halbe Familie an gebrochenem Herzen sterben, wenn ein Verwandter stirbt.

Nach einer Weile setzt Mike wieder an. „Ich hätte von meinem besten Freund nie gedacht, dass er homophob ist. Es gab nie Anzeichen dafür. Ich war der Meinung, ich kenne ihn in- und auswendig, doch ich musste mich eines Besseren belehren lassen. Wenn ich sagen würde, er war stocksauer, wäre das die Untertreibung des Jahrhunderts. Er hat Ty sofort aus seinem Haus geworfen und mich vor die Wahl gestellt. Entweder ich trenne mich von Ty und darf bleiben oder er wirft mich hinaus und kappt alle Verbindungen."

Mike wischt sich mit der Hand mehrmals über die Augen. „Ich war vollkommen überfordert mit der Situation. Ich wollte mit Ty zusammen sein. Er war die Liebe meines Lebens. Er ist es noch." Er schaut mich mit Tränen verschleiertem Blick an. „Aber ich hätte es nicht über das Herz gebracht, dich zurückzulassen. Mein eigenes, noch ungeborenes Kind."

Mike schluchzt und ich kann nicht anders, ich greife nach seiner Hand und ziehe ihn zu mir. Ich muss ihn umarmen, fühlen. André hält mich von hinten umschlungen und gibt mir dennoch Freiraum. Zu dritt legen wir uns auf das große Sofa und versuchen, jeder für sich zu begreifen, was Mike uns offenbart hat.

Ich weiß nicht, wie lange wir so daliegen und uns einfach in den Armen halten. Irgendwann beginnt Mike weiterzuerzählen. „Ty und ich sind kurz vor der Trennung eine Blutsverbindung miteinander eingegangen. Er wusste nicht, dass sein Bruder zeugungsunfähig war und Lia nicht seinen, sondern meinen Sohn unter dem Herzen trug. Ich habe es ihm nicht absichtlich verschwiegen, wir haben nur einfach nie darüber gesprochen. Durch die Blutsverbindung muss er etwas gespürt haben, muss auch gefühlt haben, wie es mir geht. Ich habe jedenfalls seine Trauer gespürt. Die Zerrissenheit, die Wut, den unbändigen Liebeskummer. Uns beiden ging es verdammt dreckig. Ich habe mehrfach versucht, zu ihm zu portieren, mit ihm zu reden, wollte ihm begreiflich machen, warum ich diese Entscheidung getroffen habe. Wollte unsere Beziehung retten."

Mike setzt sich auf und ballt die Hände zu Fäusten. „Ty war schon sehr früh sehr mächtig. Er hat einige Zeit beim Weltenmeister gelernt, dem obersten Meister unserer Welt. Beim dritten Versuch, mit Ty zu reden, kam es zum Kampf. Er hat mir unmissverständlich klargemacht, dass er mich nie wiedersehen will. Er hat mich verhöhnt und verstoßen. Danach war er wie vom Erdboden verschluckt. Ich weiß bis heute nicht, wie er es geschafft hat, die Blutsverbindung zu blockieren, sodass wir nicht daran zugrunde gegangen sind."

„Durch das Blocken der Blutsverbindung seid ihr beide am Leben geblieben?", will André wissen.

Mike nickt. „Ich habe mich dann ganz auf Chris konzentriert. Lia hat immer wieder versucht, zu vermitteln, hat tagelang auf ihren Mann eingeredet, doch Dirk hat nicht eingelenkt. Unsere Freundschaft ist in dem Moment zerbrochen, als er Ty hinausgeworfen hat. Er hat mich nur noch geduldet, weil ich Chris' leiblicher Vater war. Als dann der Unfall passiert ist, war ich plötzlich allein. Dann stand Ty, nachdem er mehr als zwei Jahre verschwunden war, wieder vor der Tür und wollte dich mitnehmen. Er dachte, er sei dein einziger verbliebener Familienangehöriger und sagte, er wolle sicherstellen, dass du kein homophobes Arschloch wirst, wie sein Bruder. Und er hatte solch eine Wut in seinem Bauch. Ich wollte ihm erklären, dass du mein leiblicher Sohn bist und nicht der seines Bruders. Er hat mir nicht zugehört."

Mike schluchzt auf und wird plötzlich von einem Weinkrampf geschüttelt. „Gott, Chris, ich hatte solche Angst, dich auch noch zu verlieren, nachdem Ty mich bereits verstoßen hatte. Er hat mir einfach nicht zugehört. Und das Schlimmste war, dass ich ihn sogar verstehen konnte. Ich habe ihn tief verletzt und in seinem maßlosen Schmerz hat er nur noch blind um sich geschlagen und keinen mehr an sich herangelassen. Es kam dann erneut zum Kampf. Doch diesmal hat sich der Weltenmeister eingemischt. Er war der Auffassung, dass keiner von uns gut genug für dich sorgen könnte und hat entschieden, dass du zu menschlichen Pflegeeltern kommst, da deine Mutter menschlich war. Ich durfte über dich wachen, in deiner Nähe sein, doch ich sollte mich raus deinem Leben heraushalten, um deine Sicherheit zu gewähren. Ty und ich wurden von ihm mit einem Bann belegt. Wir können nur zurück, wenn wir bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Welche das sind, müssen wir selbst herausfinden. Ty wurde zudem verboten, mit dir Kontakt aufzunehmen."

„Warum hast du mir nicht gleich gesagt, dass du mein Vater bist? Im Club. Oder später, in deiner Wohnung. Du hast mich gefragt, ob ich mich an meine Eltern erinnern könnte. Warum? Warum hast du es mir nicht gesagt? Meinst du nicht, ich hätte schon früher das Recht gehabt, es zu erfahren?"

„Bitte verzeih mir, Chris. Ich war egoistisch. Ich hatte Angst, dass du mich als Eindringling siehst, als denjenigen, der dein Familienbild zerstört. Und ich wollte nicht, dass du so von Dirk denkst. Für dich war er dein Vater. Ich wollte, dass du ein gutes Bild von ihm in Erinnerung behältst, denn er hat dich vergöttert. Und ich habe ihn immer geliebt wie einen Bruder. Ich hätte nie gedacht, dass er mal so sein könnte. Ich habe damals die Welt nicht mehr verstanden." Mike atmet zitternd aus und reibt sich mit den Händen über die Oberarme.

„Mike, hey ... ich habe nur Fotos von meinem ... von Dirk. Keine Erinnerungen. Daher kannst du auch keine zerstören. Und wenn er diese Einstellung hatte, hätte ich spätestens jetzt mit ihm gebrochen." Mein Blick wandert zu André und ich spüre Dankbarkeit in mir. Und etwas sehr viel Stärkeres.

„Hey." Ich streichle freundschaftlich über Mikes Arm. „Magst du uns erzählen, warum du es vorhin anscheinend nur noch mit letzter Kraft zu uns geschafft hast?"

„Ich habe Ty gezwungen, mir zuzuhören."

„Steht das Gebäude noch?" André zwinkert ihm zu.

Mike erhebt sich vom Sofa und geht unruhig hin und her. „Ein paar neue Setzrisse gehen wohl auf unser Konto. Und eventuell müssen ein paar Bodenplatten da oben ausgetauscht werden."

„Was hast du ihm gesagt?"

„Als wir beide gemeinsam vor ihm standen, hat er gespürt, dass eine Verbindung zwischen uns besteht. Die Blutverbindung zwischen Ty und mir ist ja noch vorhanden, nur blockiert. Ich habe jedoch das Gefühl, dass diese Blockade langsam verblasst. Seit der Begegnung in der Kuppel ploppen immer wieder Gefühlsfetzen von ihm in mir auf. Ich glaube, bei ihm ist es dasselbe. Vielleicht kann er jetzt nichts mehr dagegen tun und hat einfach rot gesehen. Aber er wollte dich zu keinem Zeitpunkt verletzen, das musst du mir glauben. Ich habe ihn letztendlich dazu zwingen können, sich meine Sicht der Dinge anzuhören. Und ..." Mikes Kehle entweicht ein Ton, der seinen Schmerz erahnen lässt. Als er den Satz vollendet bricht seine Stimme. „.. und ich habe ihm gesagt, dass du mein Sohn bist. Und, dass ich ihn immer noch liebe."

Minutenlang stehen wir nur still da. André kommt zu uns und zieht uns in eine Umarmung zu dritt.

„Und wo ist Tyler jetzt?"

Mike zuckt mit den Schultern. „Er ist ohne ein Wort verschwunden. Ich kann nur hoffen, dass meine Botschaft angekommen ist und er sich beruhigt. Vielleicht kann er mir eines Tages verzeihen und kommt zu mir zurück."

Abgetaucht und durchgespiegeltWhere stories live. Discover now