Kapitel 7 - Timbuktu oder Nord-Sibirien?

95 18 18
                                    


Zu Hause begrüßt mich die ernüchternde Stille meiner Wohnung und ich wünschte, ich könnte einfach durch den Spiegel zu André springen. Wie kann man einen Menschen nach einem so kurzen ersten Treffen bereits dermaßen vermissen? Er ist ein wahnsinnig toller Mann, interessant, sexy, humorvoll. Mir fällt auf, dass wir uns in Bezug auf Gummibärchen unheimlich gut ergänzen und ich muss unwillkürlich lachen. Es ist das erste Mal, dass bei mir jemand einen solch tiefen Eindruck hinterlässt und ich mir sofort mehr vorstellen kann. Es war so vertraut bei André, als würden wir uns schon viel länger kennen.

Aber es ist nicht einfach, wieder zu ihm zurückzukommen, das habe ich gestern leidvoll erfahren müssen. Mike hat mir gesagt, ich soll heute wieder in den Club kommen. Hoffentlich kann er mir dieses Mal sagen, wie ich herausbekomme, wo ich landen werde. Nun ist es fast vier Uhr morgens. Ich kann zu dieser frühen Stunde sowieso nichts machen und ehrlich gesagt bin ich auch hundemüde, daher ziehe ich mich aus und lege mich ins Bett. Ich kriege nicht mal mehr mit, wie mein Kopf das Kissen berührt.

Erst gegen zehn Uhr werde ich wieder munter. Na immerhin knapp sechs Stunden Schlaf am Stück. Beim Frühstück reicht die Milch nur noch für eine kleine Tasse Kaffee, was mir das erste Augenrollen des Tages entlockt. Blöd. Ich hole mir einen Zettel und schreibe sofort einen Einkaufszettel für morgen, damit ich es nicht vergesse.

Ich traue mich nicht so wirklich, nochmal durch einen meiner Spiegel zu gehen, da ich nicht weiß, wo ich landen werde. Kurzentschlossen ziehe ich meine Sportklamotten an und will eine Runde laufen gehen. Am Ende komme ich sonst wieder bei irgendeinem falschen André oder weiß-der-Geier-wo heraus. Nö nö. Dann lieber joggen.

Neben dem mannshohen Spiegel in meinem kleinen Flur, den ich aus Faulheit seinerzeit nur eine Hand breit von der Wand entfernt auf den Boden gestellt und mit der Oberseite gegen die Wand gelehnt habe, hängt meine Pinnwand.

Während der Einkaufszettel zwischen meinen zusammengepressten Lippen klemmt, versuche ich, einen Pin aus der Pinnwand zu lösen, und angle gleichzeitig nach meiner Laufjacke, die an der Garderobe auf der gegenüberliegenden Wand hängt. Wahrscheinlich sehe ich aus, wie ein Jongleur im Zirkus, der auf einem Bein stehend, mit den übrigen Gliedmaßen jeweils etwas anderes jongliert und selbst mit dem Mund noch Teller rotieren lässt.

Der Pin weigert sich beharrlich, das Stück Kork zu verlassen, in dem er steckt, und plötzlich habe ich nicht nur den Pin zwischen den Fingern, sondern der Rest der Pinnwand hängt gleich mit dran, da sie sich vom Haken gelöst hat. Gott, wie unfähig kann man denn sein?

Ich versuche eilig, meine Jacke wieder an den Haken zu hängen, damit ich die Pinnwand nicht fallen lasse, dabei stoße ich etwas zu heftig an dem nur angelehnten Spiegel an. Ganz klasse, Chris. Ganz klasse.

Hätte heute nicht Montag sein und ich einkaufen gehen können? Das ist mein letzter Gedanke, bevor der Spiegel sich der Schwerkraft beugt und über mich fällt.

Irgendwie praktisch ist es ja schon, dass ich mitten im Salat in der Gemüseabteilung eines Supermarkts lande, aber es wäre toll, wenn ich beim nächsten Mal stehend ankäme und nicht das Grünzeug plattsitzen müsste. Ich beglückwünsche mich, dass ich nicht schon wieder eine weiße Jeans anhabe, ahne aber, dass die Ankunft im Salat auch mit der Position des Spiegels zusammenhängt, der schräg über der Auslage angebracht ist.

Gott sei Dank stehen die Eierpaletten nicht unter einem Spiegel.

Bevor mich hier noch einer im Kopfsalat sitzen sieht, klettere ich schnell aus der Gemüseauslage und klopfe mir die Hose ab. Den Einkaufszettel noch zwischen die Lippen geklemmt und die Jacke in der Hand, sehe ich mich neugierig um.

Ein Blick auf die Preisschilder offenbart mir, dass ich mich noch in Deutschland befinde. Gut, also wenigstens nicht Timbuktu oder Nord-Sibirien. Es ist Sonntag. Welcher Supermarkt in Deutschland hat sonntags geöffnet?

Ich laufe in Richtung Ausgang. Die gesamte Seite ist verglast, der Boden vor dem Schaufenster besteht aus grau gemustertem Marmor. Im rechten Augenwinkel kann ich eine Rolltreppe ausmachen und Schilder auf denen dezente Hinweise zu verschiedenen Gates stehen. Oh. Der Supermarkt im Flughafen.

Ich seufze tief. Ganz toll. Beim Durchsuchen der Taschen meiner Jacke und der Laufhose finde ich glücklicherweise noch einen zusammengefalteten Zwanzigeuroschein. Wo ich schon mal hier bin, kann ich ja auch einkaufen.

Wenig später stehe ich mit einer vollen Tüte eine Ebene weiter oben im Terminal und studiere die S-Bahn-Pläne. Es gibt hier zwar jede Menge Spiegelflächen, aber hier ist auch ein Verkehr wie in London. Ich kann doch schlecht mitten im Flughafenterminal durch einen Spiegel gehen. Mal ganz davon abgesehen, dass ich nicht weiß, ob ich wieder zu Hause lande oder bei den Affen im Zoo.

Zur Mittagszeit bin ich wieder zu Hause und muss erst einmal wieder den Spiegel aufstellen, der vorhin auf mich gefallen ist. Zum Glück ist er nicht kaputtgegangen, sondern wurde durch die Jacken an der Garderobe gebremst und hängt nun sehr windschief verkeilt quer im Flur.

Ich verstaue rasch den Einkauf und gehe tatsächlich noch joggen, verbringe den Nachmittag mit Grübeleien auf dem Sofa und freue mich, als es acht Uhr ist und ich mich fertigmachen kann für den Club.

Ich sitze kaum an der Theke, als Mike neben mir auftaucht. „Hey, ich hab kurzfristig frei und dachte, wir gehen zu mir und quatschen dort in Ruhe. Ist das okay für dich?"

„Klar, Hauptsache, wir werden heute nicht gestört und ich bekomme endlich ein paar Antworten."

„Ach komm, so schlimm kann es noch nicht gewesen sein. Immerhin sitzt du hier und nicht im Spiegelsaal von Versailles."

„Das wäre mir vermutlich lieber gewesen als der Misthaufen." Meine Augen rollen ganz von allein, als sich meine Nasenschleimhaut an den Gestank erinnert.

„Okay, dann komm. Ich portiere uns zu mir", spricht er, packt mich am Ellbogen und steuert mich an der Tanzfläche entlang zu einer Tür in einen Mitarbeiterbereich. Dort hängt in einem kleinen Spindraum ein Spiegel an der Wand.

„Bereit?", will er wissen.

„Ja. Bereit. Muss ich mich an dir festhalten oder so?"

„Normal gilt: je mehr Körperkontakt, desto besser. Aber wenn du mit mir portierst reicht es, wenn du mir deine Hand gibst." Mike greift nach meiner Hand und geht, ohne zu zögern, durch den Spiegel.

Wow, denke ich, während ich ihn nur Zentimeter vor mir in der sich kräuselnden Oberfläche verschwinden sehe, auf unsere verbundenen Hände schaue und mitgezogen werde. An die Eiseskälte beim Durchgang werde ich mich wohl in diesem Leben nicht mehr gewöhnen. Es fühlt sich an wie ein sekundenlanger Durchflug durch sibirischen Luftraum. Ohne Flugzeug.

Als ich aus dem Gegenportal steige, stehe ich in einem großen, mit Deckenflutern sanft beleuchteten Raum, der an den beiden, über Eck verlaufenden Seiten von bodentiefen Panoramascheiben begrenzt wird. Draußen sieht man das nächtliche Frankfurt.

Ich bin ein bisschen enttäuscht. Irgendwie hatte ich erwartet, dass der Portalmeister ... keine Ahnung ... in einer spektakulären Hütte auf dem Mount Everest wohnt,... oder so. Aber nicht in einem Wolkenkratzer in Frankfurts Europaviertel. Wobei die Aussicht aus dem Wohnzimmer hier auch extrem beeindruckend ist.

Mike lässt meine Hand los und läuft zu einer langen Küchenzeile am anderen Ende des Raumes.

Ich überlege kurz, ob man noch von ‚Küchenzeile' sprechen kann, wenn man dort einen Kochkurs mit mindestens sechs Personen abhalten könnte.

Dann zieht mich der Ausblick über das nächtliche Panorama geradezu magisch an. Es dauert einen kurzen Moment, dann klärt mich mein Orientierungssinn auf. „Du wohnst in einer verdammten Penthousewohnung und arbeitest als Barkeeper? Was zur Hölle mache ich falsch?"

„Mir gehört nicht nur die Penthousewohnung, sondern auch die Immobilienfirma, der unter anderem dieses Gebäude gehört." Mike zwinkert mir zu und ein schiefes Lächeln schleicht sich in sein Gesicht.

„Dir ... was?" Ich starre ihn ein paar Minuten an, während er entschuldigend mit den Schultern zuckt.

„Okay, ich will es gar nicht wissen." Ich hebe meine Arme abwehrend nach oben. "Je weniger ich weiß, desto weniger kann ich für Informationen gefoltert werden."

„Wer will dich foltern?"

„Noch keiner. Egal. Also erzähl mir was über das Spiegeldings", bitte ich.

Abgetaucht und durchgespiegeltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt