10 Wenn man 30 min lang angeschrien wird

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Einmal machte ich auch mit meiner Mutter einen Spaziergang. Sie redete erst ganz viel von meiner großen Schwester, dass die strohdumm sei und ihr Studium nicht hinbekommen würde. Ich warf ein, dass sie dieses Studium gar nicht machen wolle und dass sie gedrängt wurde, sich einfach einzuschreiben, um überhaupt irgendetwas zu machen. Meine Mutter meinte, dass meine große Schwester sich für ihren Traumberuf (Medizin) in der Schule mehr hätte anstrengen müssen. Wobei meine große Schwester tatsächlich immer gute Noten hatte, aber einfach nur das Pech, dass sie ausgerechnet in der Qualifikationsphase für das Abitur über Monate hinweg mehrmals krank war. Unter anderem mit einer Krankheit, die fast wie eine echte Grippe war, aber nie nachgewiesen werden konnte, dass es Grippe war. Davon hatte sie dann immer Kopfschmerzen, bekam nicht immer so gut Luft, war schnell erschöpft. Sie hatte das noch Monate nach der eigentlichen „Grippeerkrankung" und die Lehrkräfte hatten ihr noch angeboten, das Schuljahr zu wiederholen aufgrund der vielen Fehlstunden.

Meine Mutter ließ dann nach heftigen Diskussionen das Thema bleiben und machte bei mir weiter: „Aber du bist ja auch strohdumm, weil du kein Latein kannst." Sie hat es geschafft, mich eine halbe Stunde lang anzuschreien, obwohl ich sogar schon weinend neben ihr hergegangen bin und auch andere Leute an uns vorbeiliefen. Irgendwann bin ich dann in den Wald abgebogen. Sie sagte dann zu mir: „Man sollte dich einsperren, damit du den ganzen Tag Latein lernst, anstatt z.B. wie jetzt mit mir spazieren zu gehen."

Ich hatte noch Erinnerungen daran, dass sie mich tatsächlich mal „eingesperrt" hatte in der Wohnung und weil es ein Teil meines Schulweges war, kannte ich mich dort sehr gut aus und bin dann einfach weggerannt, mitten durch die Wege. Meine Mutter hatte noch nach mir gerufen, aber in dem Moment hatte ich keine Lust mehr, bei ihr zu bleiben. Es war alles einfach zu viel. Ich kam dann irgendwann an einer Straße an, wo ich mich erstmal auf eine Bank setzte. Zum Glück hatte ich mein Tastenhandy bei mir und ich hatte Kopfhörer dabei. Dadurch konnte ich mich mit Radio ablenken.

Ich ging mein Telefonbuch durch und überlegte, jemanden anzurufen, aber die meisten Nummern waren von alten Freunden und mit denen hatte ich längst nichts mehr zu tun und meine „dritte Oma" (Pflegemutter meiner Mutter) wollte ich auch nicht anrufen, weil es mir unfair vorkam, sie damit zu belasten, weil wir wegen Corona kaum noch Kontakt hatten.

Also beobachtete ich noch eine Weile den Sonnenuntergang und ging dann den langen Weg zurück nach Hause, weil ich keine Lust hatte, durch den Wald zu laufen, falls meine Mutter noch irgendwo war. Dann kam sie mir allerdings mit dem Auto entgegen und bat mich einzusteigen. Sie redete inzwischen sehr freundlich. Ich sagte, dass ich die letzten Meter lieber zu Fuß gehen würde und ich das schon schaffen würde, aber sie war fest entschlossen, dass ich das nicht müsse und sie mich lieber mitnehmen wollte. Kaum war die Autotür zu, fing sie schon wieder an: „Ich habe im Wald nach dir gesucht! Ist dir das eigentlich bewusst? Wegen dir wäre ich fast umgeknickt und dann wäre ich ganz alleine irgendwo im Wald gewesen! Ich bin sogar bis [in einen anderen Stadtteil] gelaufen, um dich zu suchen. Alleine hätte ich doch gar nicht gewusst, wie ich wieder nach Hause kommen sollte!" Ich hatte dabei kein Wort mitzureden und als sie das Auto parkte und ich ausstieg, war wirklich alles vorbei für mich. Ich ging rein und direkt ins Zimmer. Mein Vater fragte, was denn jetzt passiert sei, aber ich sagte nur, dass meine Mutter ihm das gerne erklären könne. Zu mehr wäre ich auch gar nicht mehr in der Lage gewesen.

Haben eure Eltern schonmal zu euch gesagt, dass ihr strohdumm seid? Oder dass man euch zum Lernen einsperren sollte?

Ich finde das einfach nur erschreckend... :-( Was denkt ihr darüber?


Psychische Gewalt - Ein Erfahrungsberichtحيث تعيش القصص. اكتشف الآن