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Das gestrige Feuer war hervorragend gewesenen. Glücklich hatte ich festgestellt, dass wir noch immer eine Gemeinschaft waren. Eine in der jeder seinen Platz hatte und die auch neue Mitglieder zuzulassen schien. Jerry und seine Brüder hatten sich  prächtig amüsiert und so war es doch auch allen anderen gegangen, oder? Ich musste mir eingestehen, dass ich das nicht genau sagen konnte, denn ich hatte gestern kaum auf die anderen geachtet... Sicher, ich hatte die Anwesenheit einiger Personen deutlich mitbekommen, doch es war einer der wenigen Abende meines bisherigen Lebens gewesen, an denen ich vollkommen unbedacht im Moment gelebt hatte. Und da diese Momente für mich so selten waren, hatte ich das Ende des gestrigen Tages längstmöglich hinausgezögert, sodass ich mich spätnachts nach Hause schleichen musste. Zu meinem großem Glück bemerkten meine Eltern nichts davon!

Als ich heute Morgen das Haus verließ, um pünktlich bei Anne zu erscheinen, mit welcher ich verabredet war, war ich zugegebenermaßen von recht starken Kopfschmerzen geplagt und wäre am liebsten ein paar Minuten, wenn nicht sogar Stunden, länger in meinem Bett liegen geblieben. Jedoch wollte ich unbedingt rechtzeitig zu Anne kommen, denn ich selbst hatte sie zu einem gemeinsamen Nachmittag genötigt. Sie brauchte dringend Abwechslung! Seitdem Matthew krank geworden war, verbrachte sie beinah jede Minute mit seiner Pflege oder mit Farmarbeit, und die Zeit, die ihr dann noch blieb, schenkte sie Gilbert. Ich war nicht eifersüchtig, keinesfalls, Anne und ich verbrachten ausreichend Zeit zusammen in Charlottetown, aber ich war doch der festen Überzeugung, dass sie eine Pause benötigte und zudem ihre Ferien genießen sollte.

So also stellte ich mich tapfer meinen pochenden Kopfschmerzen, die sich glücklicherweise durch die frische Waldluft linderten. Und als ich dann auch noch die singenden Vögel hörte, erhellte sich meine Laune endgültig.

Bedauerlicherweise sollte dieser erfreuliche Zustand nicht lange anhalten, doch davon wusste ich in jenem Augenblick noch nicht im geringsten. Dann jedoch gelangte ich in Green Gables an. Beim Gang durchs Tor traf ich auf einen sehr übellaunig aussehenden Gilbert. Er schien mich gar nicht zu bemerken und machte auch keine Anstalten meine Begrüßung zu erwidern, was außerordentlich wenig zu ihm passte. Nach kurzem Suchen, fand ich Anne in der Scheune. Ich erschrak bei ihrem Anblick.

Sie saß zusammengesunken auf einem Heuballen und starrte ins Nichts. Ihre Wangen jedoch waren bedeckt von Tränen, die frisch und nass wie durchsichtige Perlen auf ihrem Gesicht lagen.
„Anne!", rief ich aus. „Was ist geschehen?" Dabei eilte ich an ihre Seite. Als sie mich sah, ergriff sich traurig meine Hand. „Oh Diana, wir haben uns ganz fürchterlich gestritten und ich glaube, ich werde nun nie wieder im Leben glücklich seien können." sie brauchte nicht zu erklären, wer ‚wir' waren; ich verstand.

Nach einer Weile des einvernehmlichen Schweigens, begann sie zu erzählen.
„Ich bin bloß immer noch so wütend Diana. Ja, es ist beinah kaum zu glauben, was dieser törichte Junge mir vorwirft. Er denkt doch tatsächlich, dass ich mich auf eine besondere Weise für James interessieren würde! Wie kann er darauf kommen? Meinetwegen soll er eifersüchtig auf diesen anderen Jungen sein, wenn er so dämlich sein mag, aber warum glaubt er mir nicht? Warum vertraut er mir nicht?" Anne begann sich in Rage zu reden, doch als sie gerade am Höhepunkt ihrer Empörung angekommen zu seien schien, wich diese plötzlich tiefer Niedergeschlagenheit.

„Aber wahrscheinlich bin ich sogar an allem Schuld. Die ganze Auseinandersetzung fing sowieso nur an, weil ich mich fragte, wo Waters bloß ist. Seit heute Morgen ist er nämlich unauffindbar. Das hat das Fass wohl zum überlaufen gebracht. Und vielleicht hätte ich auch nicht mit ihm Tanzen soll- Ach bitte Diana sag doch auch etwas!" Ich blickte in die aufgewühlten Augen einer zutiefst verzweifelten Anne.

„Ich muss sagen, ich finde sein Verhalten unerhört.", begann ich und schaute meine Freundin dabei entschlossen an, „Gilbert muss dir vertrauen und wenn er ein Problem mit Waters hat, dann soll er das mit ihm selbst klären! Es wäre seine Aufgabe nun an deiner Seite zu sein. Anne, nicht nur Matthew geht es schlecht, sondern auch du solltest dich ausruhen. Sonst arbeitest du dich noch kaputt." Mittlerweile hatte ich meine Hand sanft auf ihren Arm gelegt und schaute sie mit ernstem Blick an.

„Vielleicht hast du recht Diana. Ach, auf dich ist Verlass. Ich werde warten, bis Gilbert Blythe merkt, wie unrecht er zu mir war." Beinah erinnerte mich Anne nun an damals, mit ihren endlosen Sticheleien und ihrem Trotz Gilbert gegenüber. Hoffentlich gab es auch diesmal ein so gutes Ende zwischen den beiden.

Schließlich begaben wir uns auf Annes Zimmer, um dort ein bisschen Zeit zu verbringen und nicht dauerhaft auf dem ungemütlichen Scheunenboden sitzen zu müssen. Auf dem Weg dorthin wurde Anne jedoch auf einen Umschlag aufmerksam, der auf dem Esstisch lag und mit ihrem Namen beschriftet war. Rasch ergriff sie ihn und öffnete ihn leicht verwirrt. An der Unterschrift erkannte ich, dass er von James war - was das wohl zu bedeuten hatte?

Anne beugte sich ebenso irritiert über den Brief. Als sie ihn eine Zeit lang schweigend gelesen hatte, hielt sie ihn mir hin, sodass ich ebenfalls das in unsauberer Handschrift Geschriebene entziffern konnte. Was dort stand, war mir schwer begreiflich.
„Also doch.", war das Erste, was ich dazu zu sagen hatte.
„Anscheinend.", erwiderte Anne bloß.

Ein zweites Mal lasen wir James Brief. Gilberts Vorwürfe waren also gar nicht so sehr aus der Luft gegriffen wie zunächst vermutet. Trotzdem traf Anne keine Schuld. Sie hatte James nicht freundlicher oder interessierter behandelt, als sie es bei anderen nicht auch tat. Gilbert würde schon noch früh genug merken, wie dumm es war, die kostbare Zeit in der er Anne sehen konnte, mit Eifersüchteleien zu verschwenden. Doch ich hielt ihn für gescheit genug, um sich die gleiche Erkenntnis in nur wenigen Tagen einzugestehen. Alles andere hätte mich mehr als nur verwundert.

Ich befürchtete lediglich, dass der Streit mehr an Anne nagte als sie sich anmerken ließ. Daher versuchte ich eine gute Freundin zu sein und mich mit ihr auf die schönerem Dinge zu konzentrieren wie zum Beispiel die durchs Fenster strahlende Sonne.

Anne & Gilbert (FF)Where stories live. Discover now