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Das Frühstück des nächsten Morgens gestaltete sich lebhafter denn je. Ohne sich anzukündigen hatte gestern Abend Tante Josephine vor der Tür gestanden und erklärt sie wolle ein paar schöne Sommertage bei uns in Avonlea verbringen. Während meine Eltern versuchten ihren schockierten Gesichtsausdruck zu kaschieren, freuten MinnieMay und ich uns sehr. Gerade in den letzten Tagen hatte ich bemerkt, wie froh ich doch war nicht mehr unter dem Dach meiner Eltern zu leben. Ich wollte keinesfalls undankbar sein und ich liebte mein Elternhaus, aber meine Eltern konnten schwierig sein.

Tante Josephine aber war anders. Zwar hatte ich sie einige Male in Charlottetown besucht, doch bedauerlicherweise hatte mir dazu oft die Zeit gefehlt und auch der letzte Besuch lag bereits Wochen zurück. Sie lockerte mit ihrer direkten und klugen Art stets das ganze Haus mit all seiner Steifheit auf.
So fragte sie mich heute am Frühstückstisch, der ausnahmsweise einmal ausschließlich aus Frauen bestand, da Vater noch eine Erledigung zu machen hatte, wie es mir bei meinem Studium erginge. Eine Frage, um die sich meine Eltern bis jetzt gemieden hatten. Ich wusste, dass sie noch immer nicht zufrieden mit meinen Wünschen waren und wollte ihnen daher auch nichts Erzählen, dass sie nicht hören wollten, aber wenn nun jemand fragte.
„Oh es ist außerordentlich interessant...", und dann begann ich mit Einzelheiten, die andere in diesem Haus gelangweilt hätten, doch Tante Joe hörte mir aufmerksam zu.

„Und musizierst du noch mein Kind?", fragte sie schließlich.
„Ja, ich habe das Klavierspielen und Singen wieder aufgenommen. Im Wohnheim lässt man mich am dortigen Flügel üben." Ich konnte mich nicht entsinnen, einmal im Kreise der Familie so viel und lange am Esstisch von mir erzählt zu haben.
„Es macht mich froh zu hören, dass die diese Leidenschaft von dir nicht aufgegeben hast.", sagte Tante Joe mit einem Lächeln. Nach Beendigung des Frühstücks begab MinnieMay sich nach draußen um zu spielen. Und wir übrigen fanden im Salon Platz. Tante Josephine bat mich ein bisschen Klavier zu spielen und das tat ich mit Freuden.

Ich wurde erst unterbrochen als mein Vater zurückkam. Er hatte polterte die Eingangsstufen hinauf und als er, nachdem er Hut und Mantel abgelegt hatte, bei uns im Salon ankam, hatte er leicht hektische Flecken im Gesicht und fuhr sie durch die Haare.
Meine Mutter bemerkte dies ebenfalls:„Liebling, ist alles in Ordnung?"

„Nicht wirklich. Ich komme vom Gemeindehaus. Zum einen hat Mr. Cuthbert die Blattern und scheint ernsthaft krank." Bestürzt schaute ich ihn an. Schwebte Matthew etwa in Lebensgefahr? Nein, dass konnte doch nicht sein. Mein Vater bemerkte den Blick.
„Beruhige dich Diana. Mrs. Cuthbert hat selbst gesagt, dass sich seine Lage bald bessern wird, wenn wir nur alle getrost sind. Du musst dir keine Sorgen machen, halte dich nur von Matthew fern; er ist ansteckend.", dann fuhr er an meine Mutter gewandt fort, „Doch fast das Schlimmste daran ist, dass Matthew nun nicht arbeiten kann. Gesund wird er wieder, aber gerade ist eine wichtige Zeit für die Farm und ansonsten haben die Cuthberts nur diesen einen Farmjungen."

„Jerry", sagte ich, doch fand kein Gehör.

Meine Mutter hatte über die vielen Nachrichten bereits ihren entsetzten Blick aufgesetzt, doch bei der nächsten hielt sie sich empört die Hand vor den Mund, denn mein Vater erzählte:
„Aber doch am schockierendsten: Mrs. Lynde hat einen Landstreicher in unserem Gemeindehaus übernachten lassen. Sie sagte ihr", dabei schaute er mich streng an, „habt ihn gestern mitgebracht und batet um Obdach für ihn. Es ist natürlich selbstverständlich, dass dieser Umstand schnellstmöglich geändert werden muss. Ein solches Chaos ist wirklich inakzeptabel!"

„Und das auch noch am frühen Morgen.", fügte meine Mutter bestätigend an.

„Sosehr ich das Landleben schätze, es scheint mitunter doch so langweilig zu sein, dass einem ein Krankheitsfall und ein Vagabund als unermessliches Chaos vorkommen..", bemerkte Tante Joe amüsiert. Irritiert von ihren Worten, versuchten meine Eltern mit ihnen recht angemessen umzugehen. Ich jedoch überlegte, was nun mit James Waters passieren würde. Zwar wirkte er gestern ziemlich unerschütterlich, obdachlos war er nun jedoch trotzdem. Und da kam mir die rettende Idee, wie ein Geistesblitz. Schnell durchdachte ich sie ein zweites Mal, bevor ich sie äußern würde, kam aber zu dem Schluss, dass sie weiterhin schlüssig war.

„Könnte man nicht", fing ich an, „Waters, den „Vagabunden", bei den Cuthberts unterbringen. Er könnte dort an Matthews Stelle arbeiten, solange dieser krank ist und sicherlich ist in der Scheune dort noch ein Schlafplatz. Jerry Baynard schläft dort ebenfalls. Und die Zeit, die Matthew zum auskurieren braucht, wird ähnlich lang derer sein, die James Waters hier verbringen will."

„Ihr habt eine kluge Tochter", sagte Tante Joe trocken und zu meinem Erstaunen stimmten meine Eltern zu.
Zuerst wurde Marilla gefragt, die wiederum mit Matthew darüber sprach und beide hielten die Idee für sehr gut. James Waters ließ sich ebenfalls gerne überzeugen.
„Ein Farmjunge war ich noch nie.", sagte er bloß und ließ sich noch am selben Nachmittag von Jerry einweisen.

....

Als ich wenige Tage später Anne besuchte, entdeckte ich sie in der Scheune, wo sie sich um Belle kümmerte, während James den Stall ausmistete. Dabei unterhielten die beiden sich.

„Ich ging also langsam auf die Tür zu und öffnete sie. Nur einen Spalt breit, doch sehen konnte ich nichts, denn es war stockfinster...", nachdem ich eine Weile unbemerkt zugehört hatte verstand ich immer noch nicht worum es ging und so betrat ich endlich richtig die Scheue und grüßte beide.
„Diana, schön dich zu sehen!", rief Anne aus.
James nickte höflich.

Nachdem wir drei uns einige Zeit unterhalten hatten und ich erfuhr, dass James von einem alten schaurigen Haus erzählt hatte, dessen Echtheit Anne bezweifelte, verabschiedeten wir beide uns schließlich von James und gingen noch ein gemeinsames Stück Weg.

„Ihr scheint euch gut zu verstehen.", sagte ich und Anne stimmte mir zu.
„Es ist erstaunlich was er zu erzählen hat und vor allem kann man sich gut mit ihm unterhalten. Ich begrüße es sehr, dass sich die Liste meiner Verwandten Seelen stets verlängert." Ich musste Lächeln und freute mich für Anne.

„Wir sollten ihn unbedingt zu dem Feuer einladen, dass wir in wenigen Tagen machen wollen. Zwar hat er nicht den Abschluss mit uns gemacht, aber es wäre sicherlich sehr nett.", fiel mir da ein. Wir Schüler hatten beschlossen, dieses Feuer zu einer jährlichen Tradition werden zu lassen.
„Unbedingt", rief Anne begeistert aus, „das wird sicherlich großartig werden."

Anne & Gilbert (FF)Where stories live. Discover now