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„... und somit gilt das Erinnerungsbuch für Augenärzte als das älteste bekannte Werk zur Augenheilkunde", beendete Professor Hawkins seinen Vortrag.

Die anderen Studenten packten ihre Sachen und verließen den Saal. Auch ich sammelte meine Notizen zusammen und wollte gehen, doch Mr. Hawkins winkte mich zu sich.

„Sir Blythe, kommen sie bitte noch einmal." Ich wusste nicht ganz was mich erwarten würde, als ich auf sein Stehpult zukam.

„Blythe, ich sehe in ihnen einen sehr ambitionierten Schüler.", während er mit mir sprach, ordnete er seine Sachen, „ Nicht zu schweigen von ihrem letzten schriftlichen Aufsatz. Sie sind sehr talentiert und ich kann sie nur dazu anhalten, so weiter zu machen."

Aufmerksam schaute ich ihn an, die Hände hielt ich am Riemen meiner Tasche. Zu spät merkte ich, dass ich wie sooft meine rechte Augenbraue etwas anhob.

„Danke, Mr. Hawkins. Ich gebe mein Bestes!"
„Davon gehe ich aus. Haben Sie schon einmal praktische Erfahrungen gemacht?", fragend schaute er mich an, selbst von seiner Tasche hatte er mittlerweile abgelassen.

„Ja, ich habe eine Zeit lang in einer Arztpraxis in Charlottetown lernen dürfen."

„Sehr interessant!" Dann war ich entlassen.

Schnell verließ ich den Saal. Ich schätzte diesen Professor sehr, ich hatte all seine Bücher und Vorträge gelesen und besuchte jede seiner Vorlesungen - dass ich ihm nun aufgefallen war, erfüllte mich für einen kurzen Moment mit stolz. Im Flur der Universität traf ich auf Jasper und Charlie.

„Blythe, wo warst du? Wir dachten du wärst mit uns aus dem Saal gegangen. Wie auch immer, du musst endlich mehr von Toronto sehen.." von dort an begannen die beiden über alles Mögliche zu sprechen. Jedoch hörte ich ihnen nur mit halbem Ohr zu. Denn während wir gemeinsam durch die Gänge der Universität liefen, schwirrten die Gedanken wirr in meinem Kopf umher.
Ich hatte am Morgen einen Brief von Anne erhalten und es seitdem gerade so geschafft, die überwältigenden Gedanken an sie während der Vorlesungen zu verdrängen, doch jetzt, so schien es mir, waren meine Liebe und meine Sehnsucht nur noch intensiver als zuvor.

Sie hatte ein Gedicht beigelegt. Über Blumen und den Frühling. Ich war so verliebt, ich erkannte mich selbst nicht wieder. Jedoch hatte ich keine Zeit länger über sie nachzudenken, denn ich wurde jäh unterbrochen.
„Gilbert! Hörst du noch zu?", Jasper fuchtelte vor meinem Gesicht umher. Ich musste mich tatsächlich kurz schütteln, um wieder ganz in der Realität anzukommen. „Der denkt bestimmt an sein Mädchen - so wie der guckt", meinte Charlie. Jasper grinste mich daraufhin dümmlich an und ich schaute fragend zurück. Meine Augenbraue angehoben. „Im Gegensatz zu dir habe ich eines", sagte ich herausfordernd zu Charlie.
„Vorsicht Gilbert, du begibst dich auf gefährliches Terrain."  Seine Worte hätten fast einschüchternd geklungen, hätte er dabei nicht vermeintlich erbost den Finger geschüttelt und mich dermaßen komisch angeschaut. Belustigt schaute ich ihn an und auch er selbst musste sich das Lachen verkneifen.

Jasper, der das Schauspiel amüsiert beobachtet hatte, schien sich nun wieder auf sein eigentliches Thema zu besinnen. „Jedenfalls hat John Geburtstag und feiert heute Abend. Du kommst doch mit Gilbert?"
Zugegebenermaßen wollte ich sogar sehr gerne zu der Feier gehen, obwohl ich eigentlich noch viel lernen musste. John Lapierre war wirklich sehr nett und ich war schließlich nicht nur zum Studieren in Toronto. Jasper und Charlie schienen erstaunt mich nicht länger überreden zu müssen. Ich willigte direkt ein.

....

Wir trafen uns in einem Park. Die Jungen hatten eine Papiergirlande aufgehängt und ich weiß nicht wieso, aber ich war davon ausgegangen, dass es sich bei der Feier um ein ruhiges Zusammentreffen handeln würde. Stattdessen sah es ganz nach dem Gegenteil aus. Die abendliche Frühlingsluft zog in warmen Prisen  umher und es dämmerte bereits, als einige andere Jungs und ich ankamen. Das Fest allerdings war bereits in vollem Gange.

Haufenweise glücklicher Studenten tanzten umher und ich war plötzlich umso froher, mich vorhin gegen die Krawatte entschieden zu haben. Stattdessen trug ich ein einfaches weißes Hemd und eine Leinenhose. Die mir bekannten Gesichter verlor ich schnell in der Menge und so schaute ich zunächst orientierungslos umher. Ich war etwas geschockt, als ich ein Jungen und ein Mädchen ungeniert umherwirbeln  sah. Sie tanzten eng aneinander. Wenn Anne hier wäre...

Erneut an diesem Tag wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. „Gilbert, welch Freude dich hier zu sehen!" , es war John der mir brüderlich auf die Schulter klopfe, während er sich zu mir gesellte. „John! Ich danke für die Einladung."

„Immer gern. Hast du niemanden zum Tanzen?"

Wie aufs Stichwort, kam nun ein junges Mädchen auf uns zu. Sie war wahrscheinlich in meinem Alter und hatte lange braune Haare, die sie zu einem Zopf trug. „John,", sagte sie, „du musst dringlichst an deiner Höflichkeit arbeiten. Da hast du solch einen Gast und stellst ihn mir nicht vor.", sagte sie tadelnd, aber mit einem liebevollen Ausdruck. Dann jedoch glitt ihr Blick zu mir und sie musterte mich interessiert. Unterdessen machte John uns bekannt: „Entschuldige bitte, Sophie." , sagte er theatralisch. „Das ist Gilbert Blythe, ein sehr bewanderter Freund von mir. Gilbert, das ist Sophie, meine Cousine."

„Freut mich sehr dich kennenzulernen.", sagte sie und streckte mir ihre Hand entgegen. Höflich erwiderte ich Ihre Begrüßung und schüttelte sie. „Die Freude ist ganz meinerseits." Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich Enttäuschung in ihren Augen aufblitzen - hatte sie etwa einen Handkuss erwartet?

„Ich lass euch beide Mal", sagte John und war verschwunden ehe ich überhaupt reagieren konnte.

„Und", Sophie schaute mich fragend an, „ was führt dich nach Toronto?" Ich fing an ihr ein bisschen von mir zu erzählen, von Avonlea, meiner Zeit an Bord und Trinidad. Jedoch war ich mir nicht sicher, ob sie mir wirklich zuhörte, merkte nur, dass sie mir immer näher kam. Ihre Augen fixierten mich geradezu. Ich versuchte unser Gespräch zu beenden, doch sie ließ es nicht zu. Bis zu dem Moment, in dem sie sich nach vorne lehnte und versuchte mich zu küssen. Ich wich zurück und brachte mit meinen ausgestreckten Händen weiteren Abstand zwischen uns.
„Sophie!", rief ich entgeistert aus. Sie schaute mich beleidigt an. Als verstünde sie diese Abweisung nicht, wollte sie sich abermals zu mir beugen. „Du musst nicht schüchtern sein.", flüsterte sie mir verführerisch ins Ohr.

Sophie war hübsch, keine Frage und ihr Interesse schmeichelte mir. Aber sie war nicht Anne. Und das war alles was zählte.

Anne & Gilbert (FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt