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Ich freute mich sehr für Anne. Sie schien so glücklich und ihre Augen bekamen immer diesen Glanz, wenn es um Gilbert Blythe ging. Endlich hatten die beiden zueinander gefunden. Wir alle hatten es gewusst - selbst Ruby wirkte mittlerweile so, als wäre sie längst über Gilbert hinweg.

Ja, es war fast so, als wären ihre Interessen an Gilbert verflogen. Sie war mit ihren Gedanken ganz woanders. Keiner wusste genau weshalb und sie leugnete alles. Aber seit einigen Wochen war sie viel nervöser und noch hibbeliger als sonst. Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, begann sie zu Lächeln. Bei anderen hätte es sicher dämlich ausgesehen, aber Ruby, mit ihren Grübchen und Löckchen, sah stets aus wie ein vom Himmel gefallener Engel.

Nachdem Anne und ich im Flur des Wohnheims in lange Plaudereien verfallen waren, wurden wir plötzlich von der Oberin des Hauses unterbrochen. Ohne dass wir es bemerkt hatten, war sie in den Flur getreten: "Barry, Cuthbert! Was muss ich hier sehen? Laute schwatzende Gören in den Fluren meines edlen Hauses?! Sie wissen doch, dass sich soetwas für eine Dame nicht schickt! Das möchte ich nicht mehr sehen - ich muss Sie anhalten, sich in meinem Hause an die Regeln zu halten und das Benehmen einer feinen Dame an den Tag zu legen!"

Schuldig senkte ich den Kopf. "Entschuldigen Sie Ma'am. Das wird nicht wieder vorkommen!" Anne sagte nichts. Sie schaute bloß starr geradeaus.

"Nun gut. Ich wünsche Ihnen noch einen gesegnten Sonntag.", sprach die Oberin, als sie nach einiger Zeit begriffen zu haben schien, dass sie von Anne nichts mehr hören würde. Dann verließ sie den Gang.

Anne sah ganz und gar nicht glücklich aus. Ich kannte diesen Blick.

"Mit welchem Recht hat sie das gesagt, Diana? Was war denn an unserem Verhalten falsch.", fragte Anne mich. Irritiert blickte ich sie an und noch irritierter war ich, als ich verstand, dass Anne tatsächlich eine Antwort von mir erwartete. "Ich weiß nicht. Wir waren wirklich etwas laut, dass war nicht sehr damenhaft."

"Aber wenn wir Jungen wären, wäre es dann nicht schlimm gewesen. Ich erachte dies für äußerst ungerecht. Diana, warum dürfen sich Knaben laut unterhalten und wir Mädchen nicht. Und weshalb müssen wir überhaupt diese langen Röcke tragen? 'Unschicklich' was bedeutet das?"

"Anne!", schockiert sah ich sie an, doch sie meinte es ernst. Ihre Wangen waren hitzig und gerötet. Doch vielleicht hatte sie gar nicht so unrecht. Mit einem Mal war ich schockiert noch nie darüber nachgedacht zu haben.

"Ich weiß nicht, was ich denken soll.", sagte ich schließlich in die Stille hinein.

"O Diana!", rief Anne nun ergrieffen aus, " Sei mir bitte nicht böse, ich wollte nicht so harsch sein. Du bist und bleibst meine engste Freundin! Ich frage mich bloß so oft, ob die Welt nicht ein Stück gerechter sein müsste. "

"Ich bin froh, dass wir Freundinnen sind. Für alle Ewigkeit"

"Ich schwöre", sagten wir gleichzeitig.

...

Als ich am Abend im Bett lag, musste ich an Jerry denken. Es war nicht das erste Mal; ich lauschte den ruhigen Atemzügen der anderen Mädchen, doch konnte selbst kein Auge zutun. Ich fühlte mich noch immer schlecht. Schämte mich geradezu, denn ich war nicht gerecht zu Jerry gewesen.

Ich hatte ihn verletzt und war zu feige gewesen ihm die Wahrheit zu sagen.

Ich musste meine Tränen unterdrücken, denn ich fühlte mich, als wäre ich stets bloß feige gewesen. „Die liebe brave Diana". Immer hatte ich mich meinen Eltern gebeugt und meine Träume stets für lächerlich erklärt. Erst Anne hatte mir eine andere Welt gezeigt. Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich nun nicht auf die höhere Töchterschule ging. Mit einem Mal sah ich alles ganz klar. Anne hatte recht, wer entschied schon, wie ich zu sein hatte?

Und so beschloss ich Jerry Baynard zu schreiben. In jener Nacht überwand ich meine Feigheit, denn ich hatte nie aufgehört diesen Jungen zu mögen.

Anne & Gilbert (FF)Where stories live. Discover now