✰ Kapitel 29

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Atemlos stütze ich meine schweißnassen Hände auf den Oberschenkeln ab und ringe angestrengt nach Luft. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, den gesamten Weg zu laufen, als würde ich einen Marathon bestreiten. Trotzdem konnte ich nicht anders, ich musste so schnell wie möglich zu ihm. Irgendwann schaffe ich es, meine Atmung zumindest einigermaßen zu regulieren und schaue ehrfürchtig an dem Haupteingang des Klinikgebäudes nach oben. Erst jetzt bemerke ich, wie klar der Himmel über Baltimore ist, denn keine einzige Wolke ziert den hellblauen Horizont.

Ist das vielleicht ein Zeichen? Die dunklen Wolken haben sich endlich verzogen, um Platz für den strahlend blauen Horizont zu machen?

Schließlich setze ich meinen Weg entschlossen fort, komme vor den Fahrstühlen zum Stehen und betätige mehrmals ungeduldig den entsprechenden Knopf, als könne ich durch hektisches Drücken ein schnelleres Auftauchen des Aufzuges erzwingen. Irgendwann ertönt das erlösende Ping-Geräusch und die Türen öffnen sich, so dass ich aufgeregt ins Innere huschen kann.

Während mich der Fahrstuhl in den dritten Stock befördert, erschrecke ich kurz vor meinem Spiegelbild, welches mir unbarmherzig von der Kopfseite der Kabine entgegenblickt. Meine langen Haare habe ich zu einem unordentlichen Dutt geknotet, geschminkt bin ich sowieso seit Ewigkeiten nicht mehr und die dunklen Schatten unter meinen Augen sprechen eine ganz eigene Sprache. Ganz zu schweigen von der grauen Jogginghose und dem nicht dazu harmonierendem beigen Mantel, die ungefähr so gut zusammenpassen, wie Arbeitsschuhe zu einem eleganten Abendkleid.

Allerdings ist mir das gerade herzlich egal. Alles was ich will, ist mit Ethan zu sprechen.

Sobald der Fahrstuhl auf der Station angekommen ist, stürze ich durch den Flur und bin dankbar, keinem meiner ehemaligen Kollegen zu begegnen. Auch wenn Anthony mehr als deutlich gemacht hat, dass ich hier jederzeit willkommen sein werde, fühlt es sich komisch an.

Als ich Ethans Tür erreicht habe, klopfe ich energisch gegen das Holz, warte jedoch nicht einmal ab, ob ich überhaupt hereingebeten werde. 

»Hi, ich muss dringend mit dir–«, sprudelt es sofort aus mir heraus, nachdem ich förmlich in sein Zimmer gestolpert bin. Erst dann realisiere ich, dass der Raum leer ist. Seine Sachen sind noch da, aber von ihm fehlt jede Spur.

Hilflos sehe ich mich um. Wo steckt er bloß? 

»Was machst du denn hier?«, ertönt Madelaines verwunderte Stimme auf einmal hinter mir und ich drehe mich langsam zu ihr um. Sie steht im Türrahmen und mustert mich überrascht. »Ich habe ehrlich gesagt nicht erwartet, dich nochmal hier zu sehen.«

Offenbar bin ich immer für eine Überraschung gut. Ob das gut oder schlecht ist, darüber lässt sich vermutlich streiten.

»Wo ist er?«, bringe ich ungeduldig hervor, ohne auf ihre vorherige Frage einzugehen. Natürlich möchte ich mich auch mit ihr und Cassie aussprechen, aber das muss noch ein Weilchen warten. Ich habe das Gefühl einfach zu platzen, wenn ich Ethan nicht schnellstmöglich die Wahrheit erzählen kann und auch Maddie scheint zu spüren, dass jetzt nicht der richtige Moment für ein klärendes Gespräch ist. Trotzdem ahne ich bereits, meinen Weg nicht ohne ein paar ehrliche Worte fortsetzen zu können.

Sie blickt verstohlen über ihre Schulter, um sicherzugehen, dass niemand etwas mitbekommt. Dann tritt sie ebenfalls in den Raum und schließt leise die Tür hinter sich. »Allie, Cassie macht sich große Sorgen um dich«, sie kommt einen Schritt auf mich zu, ihre Augen voller Wärme auf mich gerichtet, »... wir machen uns Sorgen.«

Ihre Worte verfehlen ihre Wirkung nicht, denn ich weiß, dass mein Verhalten nicht fair gewesen ist.

»Es tut mir leid, dass ich so neben mir stand«, gebe ich daher ohne Umschweife zu, »ich war maßlos überfordert, das bin ich immer noch, aber mir ist jetzt endlich etwas klargeworden.«

»Und das wäre?«

»Cassie hatte recht. Es war falsch, Ethan aufzugeben und ich bin hier, um ihm endlich die ganze Wahrheit zu sagen.«

Sie lächelt mich milde an, bevor sie doch noch auf meine ursprüngliche Frage antwortet: »Er darf wieder aufstehen und nutzt das schöne Wetter. Du findest ihn irgendwo im Klinikpark.«

Ich umarme sie ein wenig zu stürmisch, was sie jedoch nur allzu bereitwillig erwidert. Dann eile ich auch schon aus dem Zimmer, um endlich meinen Traummann aufsuchen zu können.

»Interessanter Look übrigens«, ruft sie mir lachend hinterher und ich unterdrücke ein Grinsen, als ich durch den Flur laufe. Wahrscheinlich war mir mein Aussehen noch nie in meinem Leben weniger wichtig, als in diesem Moment.

Kurzerhand entscheide ich mich für das Treppenhaus und nehme auf dem Weg nach unten zwei Stufen auf einmal. Als ich in den Garten renne, blicke ich mich suchend um. Es ist früher Nachmittag und die Grünanlage ist bei dem guten Wetter ziemlich gefüllt, weshalb es gar nicht so einfach ist, mir einen Überblick zu verschaffen. Hektisch lasse ich meinen Blick über die zahlreichen Besucher wandern, während ich den schmalen Schotterweg entlangeile, vorbei an frisch bepflanzten Beeten und akkurat geschnittenen grünen Hecken.

Dann endlich entdecke ich Ethan. Er lehnt ausgerechnet gegen den Ahorn, unter welchem Maddie bei unserer ersten Aussprache stehengeblieben war. Sein Anblick lässt die Schmetterlinge in meinem Bauch tanzen und ohne weiter darüber nachzudenken, schließe ich zu ihm auf.

Zuerst bemerkt er mich gar nicht, denn er ist in ein Telefongespräch vertieft. Als er mich dann doch wahrnimmt, flüstert er ein »Ich ruf dich gleich zurück, Dad«, in sein Handy, bevor er ungläubig den Arm sinken lässt.

»Du bist zurückgekommen«, formuliert er das Offensichtliche, begleitet von einem Lächeln, das mich augenblicklich dahinschmelzen lässt.

»Natürlich«, antworte ich und auf einmal kommt es mir furchtbar absurd vor, tatsächlich in Erwägung gezogen zu haben, ihn nicht wiederzusehen. 

»Irgendwie hatte ich nach unserer Verabschiedung das Gefühl, du würdest mich nicht nochmal besuchen kommen.« Er klingt nicht verbittert, trotzdem zieht sich mein Herz bei seinen Worten auf unangenehme Weise zusammen.

»Ich muss dir etwas wichtiges sagen«, erwidere ich daraufhin entschlossen, bevor ich die Distanz zwischen uns verringere. Als ich genau vor ihm stehe, sehe ich ihm direkt in die Augen. »Beim letzten Mal war ich nicht ehrlich zu dir.«

Er wirkt nicht überrascht, was mich darauf schließen lässt, von ihm bereits durchschaut worden zu sein. »Du hast auch von mir geträumt, oder?«, mutmaßt er schließlich, seine hellbraunen Augen aufmerksam auf mich gerichtet.

Daraufhin hole ich tief Luft und erzähle ihm endlich die ganze Wahrheit.

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