Kapitel 36 - Wie die Zeit vergeht

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Olivia

Zwei Wochen. Zwei verdammte Wochen waren seit unserer letzten Begegnung vergangen. Ich hatte Mullingar nach sage und schreibe 6 Stunden Wanderung erreicht und es mir mit der Zeit hier bequem gemacht. Ich hatte eine kleine Wohnung gefunden, welche ich mir dank meines Aushilfsjobs in einer Gärtnerei leisten konnte. Mein Studium habe ich erst einmal an den Nagel gehangen, nachdem ich die Zwischenprüfungen des ersten Semesters bestanden hatte. Dennoch kann ich sagen, dass es mir gut ging. Mein Tagesablauf ist geregelt und jeden Tag gleich. Um sieben stehe ich auf, mache mich fertig und frühstücke etwas, ehe ich mich auf den Weg in die Gärtnerei mache. Sie liegt etwas außerhalb, um genauer zu sein im Osten von Mullingar, während ich meine Wohnung im Süden gefunden hatte. Dennoch macht mir die Arbeit dort Spaß und der Besitzer, Mr. Rosewood, welcher den gleichnamigen Laden leidet, scheint mich auch nicht allzu untalentiert zu finden. Immerhin kenne ich mich mit Pflanzen aus. Ich weiß, wie man sie anbaut, wie sie aufgebaut sind und wozu man sie gebrauchen kann. Auch wenn hier die Optik im Fokus steht und mir die Arbeit im Laden weniger Spaß macht, so blüht mein Herz hinten bei den Setzlingen auf. Doch egal wie sehr ich mich in die Arbeit stürze, egal wie viel Spaß sie mir auch macht. Irgendetwas sagt mir, dass mich das Ganze niemals erfüllen wird. Das etwas fehlt, was mein Leben weniger lebenswert erscheinen lässt.

Noch dazu kommt, dass die Stimme in meinem Kopf immer noch da ist und mich auch nicht in Ruhe zu lassen scheint. Im Gegenteil. Sie wird immer lauter, immer intensiver, immer quälender. Und sie zu verdrängen, hat mich bisher auch nicht weitergebracht. Wenn ich wenigstens wüsste, woher sie kommt und viel wichtiger noch, warum sie will, dass ich zurückgehe, könnte ich ja damit umgehen. Doch jedes Mal, wenn ich versuche mit ihr zu reden, blockt sie ab. Die Antwort ist immer die gleiche. >Wir brauchen ihn.< Ich kann mittlerweile nur noch mit den Augen rollen. Wer ist dieses verdammte wir?

Xavier

Ein Monat. Ein Monat ist vergangen, seit sie gegangen ist. Ein Monat, seit sie diese Jäger auf uns gehetzt hatte. Wir hatten damals die drei Überlebenden mitgenommen und sie verhört, doch ihre Antworten waren leider nichts wert und brachten uns dementsprechend auch nicht weiter. Sie behaupteten, sie wären allein. Hätten niemanden etwas gesagt, doch sicher konnte man sich bei diesen Menschen nie sein. Ich hatte es am eigenen Leib erfahren müssen. Sie waren gerissen und wenn es um ihre Freiheit ging, versprechen sie einem sogar das Blaue vom Himmel zu holen. Letztendlich mussten sie mit ihrem Leben bezahlen. Ich konnte es nicht gebrauchen, dass andere Rudel davon erfuhren, dass ich Jäger am Leben gelassen hatte. Und ich konnte nicht zulassen, dass sie die Position unserer Rudels an Dritte weitergeben.

Dementsprechend war das der einzige Ausweg aus dieser miserablen Situation. Doch trotz der ganzen Schwierigkeiten, welche sich in letzter Zeit ergaben, verlor ich mein Ziel niemals aus den Augen. Ich wollte sie zurückbekommen und dabei war es mir völlig egal, wie. Ich hatte jegliche Hemmungen abgelegt, würde durch das Feuer gehen, mich tausenden Jägern stellen, nur um sie bei mir zu haben. Daher arbeitete ich jede freie Minute an einem Plan, wie ich sie herholen konnte. Doch dafür musste ich erst einmal wissen, wo sie sich überhaupt befand. Ihr Plan, nach London zu gehen, hatte sich mit der Markierung erledigt. Obwohl ich mir selbst da sicher war, dass auch das gelogen war. Sie war nicht so dumm und würde mir ihren nächsten Aufenthaltsort verraten. Dafür war sie zu gerissen, zu durchtrieben, zu scharfsinnig. Sie kennt mich und weiß, dass ich nach ihr suchen würde. Dass ich, egal was kommt, alles dafür geben würde sie hier zu behalten. Und wenn ich sie dafür in Ketten legen, sie einsperren muss. Ich würde es tun. Einerseits weil sie meine Gefährtin war. Anderseits, weil wir es nicht ertragen konnten, das sie sich von uns entfernte. Darüber hinaus setzte mir die Entfernung bereits jetzt schon zu. Mein Blut brannte ich meinen Venen. Mein Wolf rief nach ihr und ließ mich seit Tagen nicht mehr schlafen. Wir waren besessen von der Idee, unsere Mate zu finden und sie zurückzuholen. Koste es, was es wolle.

Olivia

Zwei Monate sind vergangen. Zwei Monate, in denen ich nichts von ihm gehört oder gesehen hatte. Weitere Wochen, in denen ich mich immer wieder panisch in der Umgebung umgeblickt hatte. An jeder Ecke meinte ich ihn gesehen zu haben. In der Luft meinte ich seinen Geruch wahrgenommen zu haben. Doch jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, war dort nichts. Kein Mensch weit und breit und kein Geruch, welcher mich an ihn erinnerte. Ich hatte mir das immer nur eingebildet. Jedes einzelne Mal spielte mir meine Fantasie einen Streich. Außer in den Alpträumen, welche mich jede Nacht verfolgten. Sie ließen mich nicht mehr schlafen, weil sie mir vor Augen führten, was ich zurückgelassen hatte. Obwohl ich mir nicht mehr ganz sicher war, was davon die Wirklichkeit war und was nicht. Das Mateband hatte mich bereits fest umschlungen und es kam mir vor, als gäbe es kein entkommen. Doch an solch ein Szenario konnte und wollte ich nicht denken. Ich musste stark bleiben, mich von dem Drang ablenken, der mich zurück zu ihm zog. Einfacher gesagt als getan. In meinem Kopf schwirrte diese Stimme umher, die mich nicht mehr in Ruhe ließ. Wäre SIE nicht, würde ich das Ganze vielleicht sogar hinter mir lassen können. Aber nichts da. SIE ging nicht weg. >Natürlich gehe ich nicht weg.< Äffte sie mich nach. >Ich bin ein Teil von dir.< Ich rollte mit den Augen. Das sagte SIE jetzt immer öfter. SIE wäre ein Teil von mir. Wir wären ein Herz und eine Seele, wenn ich es nur endlich akzeptieren würde.

Für mich gab es nichts, was ich hätte akzeptieren können. Ich wollte mich nicht auf diese Stimme einlassen, denn ich wusste immer noch nicht, wer sie war. Woher sie kam oder was sie wollte. Doch in den letzten Tagen hatte sich etwas verändert. Ich spürte ihre Präsenz immer stärker und je mehr ich versuchte sie zu ignorieren oder zurückzudrängen, umso stärker wurde sie. Und jedes Mal, wenn ich gegen sie kämpfte, durchzog mich eine Schmerzenswelle, welche meine Haut zum brennen brachte. Doch egal, wie sehr ich mich entspannte. Wie sehr ich versuchte den Schmerz zu überwinden, das Verlangen dem Ganzen ein Ende zu setzen, umso schlimmer würde es. Als würde man mir einzelne Hautschichten abziehen wollen. Als würde meine Haut in Flammen stehen. War das alles Einbildung? War das die Verbindung? Die Markierung, welche er mir aufgezwungen hatte? Aber jedes Mal, wenn ich versuchte die Stimme zu fragen, bekam ich die gleiche Antwort. >Nicht mehr lang.< Oder >Ganz bald, dann lernst du mich kennen.< Kryptische Antworten, welche ich nicht entschlüsseln konnte und wollte. Mir fehlte einfach die Kraft dazu, mich näher mit diesem Phänomen meiner anscheinend zweiten Persönlichkeit auseinanderzusetzten. Vielleicht war ich ja wirklich schizophren oder litt an einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Wer wusste das schon. Ich jedoch hatte mich bereits damit abgefunden. Was blieb mir auch anderes übrig?

Sie war wie ein Parasit, welcher sich in meinem Gehirn eingenistet hatte und es dort anscheinend mehr als gemütlich fand. Also beschloss ich es einfach zu ignorieren, so gut es eben ging. Ich hatte beschlossen ihr kein Gehör mehr zu schenken. Soll sie doch reden. Es geht auf der einen Seite rein und auf der anderen wieder heraus. Während ich also einen weiteren Blumenstrauß band, warf ich einen Blick auf die Uhr, nur um festzustellen, dass ich vor fünf Minuten hätte den Laden abschließen sollen. Ich beeilte mich also und kassierte die letzte Kundin ab, ehe ich das Türschild von open zu closed änderte und mich im Mitarbeiterraum umzog. Anschließend schloss ich den Laden ab, machte die Lichter aus und verschwand durch die Hintertür, welche ich ebenfalls verriegelte. Ich blickte in den Himmel, wo mich bereits eine sternenklare Nacht empfang. >Heute ist Vollmond.< Kommentierte die Stimme in meinem Kopf. Danke für die Info? Dachte ich mir nur augenrollend und umschloss meinen Oberkörper mit meinen Händen. Es war bereits Dezember und die Temperaturen erreichten Minusgrade. Also beeilte ich mich nach Hause zu kommen und machte mir bereits einen Plan, wie ich den heutigen Abend verbringen konnte. Mit einer Tasse heißer Schokolade in der Wanne liegend und dabei meine Lieblingsserie schauend. Das klingt nach einem Plan. Dachte ich mir, während ich durch die geschmückten Straßen Mullungar lief. Weihnachten erinnerte mich immer an Familie. An Zusammenhalt. Kekse backen, vor dem Kamin sitzen, Glühwein trinken und den Tannenbaum schmücken.

Doch dieses Jahr war alles anders. Meine Mutter musste geschäftlich nach Europa und hatte es mir erst am Flughafen geschrieben. Kurz vor ihrem Abflug. Ich fühlte mich, als hätte sie mich bereits vergessen. Als wäre ich nicht ihre Tochter, als wäre ich lediglich Ballast, den sie nun endlich abwerfen konnte. Wieso sie mich die letzten Jahre über so behütet hatte? Ich weiß es nicht. Ich wünsche mich aber auch nicht in diese Zeit zurück. Ich war froh, dass ich meine neugewonnene Freiheit genießen konnte. Dass ich endlich frei war, meinen Interessen nachgehen konnte, mein Leben leben konnte. Und trotz dessen fühlte ich mich allein. Im Stich gelassen, von der eigenen Mutter. Ich schüttelte den Kopf und versuchte diese Gedanken zu verdrängen, als ich meine Wohnung erreichte und die Treppen nach oben stieg. Hinter der Tür entledigte ich mich meiner Anziehsachen, ehe ich mir im Bad Wasser einließ und in der Küche eine heiße Schokolade vorbereitete. Nach geschlagenen zehn Minuten war dann alles vorbereitet und ich stieg in das heiße Badewasser. Augenblicklich fingen meine Finger und Zehen an zu kribbeln und meine Muskeln entspannten sich merklich. Ich atmete erleichtert aus und nippte an meiner Tasse, ehe SIE sich wieder einmischte. >Genieß die Ruhe vor dem Sturm, solange du noch kannst.< Wieder eine ihrer obskuren Botschaften. Ich war doch bereits daran gewöhnt, dachte ich mir, als ich anfing mir den Kopf darüber zu zerbrechen.

Nach einer guten halben Stunde verließ ich das mittlerweile kalt gewordene Wasser und trocknete mich ab, ehe ich das Gefühl verspürte meine Füße zu vertreten. „Was ist denn jetzt los?" Fragte ich irritiert, da ich bereits auf dem Weg nachhause eine halbe Stunde spazieren war. >Es geht los.< Rief die Stimme aufgeregt in meinem Kopf. „Was geht los?" Fragte ich verwirrt, nicht wissend, was gerade passierte. Doch ohne darüber nachzudenken, schnappte ich mir meine dicksten Wintersachen und verließ das Haus, um am späten Abend spazieren zu gehen. „Was verdammt nochmal passiert hier gerade?" Fragte ich leicht panisch, da es schien, als wäre ich nicht mehr fähig meinen Körper zu kontrollieren. Meine Beine trugen mich in eine Richtung, ohne dass ich sie kontrollieren konnte. >Wir müssen in den Wald.< Kam nur als Antwort zurück, was mich geschockt die Augen öffnen ließ. „In den Wald? Nein! Warum? Wieso? Was wollen wir da?" Mir stand die Panik ins Gesicht geschrieben, doch ich konnte mich nicht vom Gehen abhalten. Egel wie sehr ich es versuchte, meine Beine, sie hatten ein Eigenleben entwickelt. >Vertrau mir. Wir sind dort sicher.< Ich schüttelte wild den Kopf. „Oh nein. Niemand ist im Wald sicher. Der Wald ist gefährlich, egal welcher." Doch all meine Versuche sie umzustimmen, wurden abgeblockt. >Der Mond steht im Zenit.< Ich fuchtelte wild mit den Armen herum. „Was soll das denn wieder bedeuten?" Rief ich empört aus, doch ich bekam nur ein: >Es beginnt.< zurück.

Der Hass meiner Gefährtin Where stories live. Discover now