Zeit

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Ich sitze auf meinem Lieblingssessel und will eigentlich lesen. Doch heute hält mich etwas davon ab, in die Welt zwischen den Zeilen abzutauchen.

Es ist ein Geräusch, das so regelmäßig ist wie ein Herzschlag. Das Ticken frisst sich in meine Ohren, scheint sich in meinem Gehirn einnisten zu wollen. Und je mehr ich versuche es zu ignorieren, desto lauter wird es.
Ich habe keine Chance, mich auf das vor mir Geschriebene zu konzentrieren. Da ist kein Platz für diesen Film in meinem Kopf, der beim Lesen entsteht. Da ist nur Platz für dieses Ticken.

Die Uhr hängt schon so lange an der Wand. Doch noch nie haben mich die Geräusche so sehr gestört wie jetzt.

Die Sekunden scheinen endlos zu sein, während ich immer wieder neu anzusetzen versuche. Und ich mich schon beim zehnten Mal dabei erwische, wie ich dieselbe Zeile lese.

Doch dabei gelingt es einem Gedanken, sich durch das ständige Störgeräusch durchzusetzen.

Merkwürdig, oder nicht? Wenn ich in derselben Zeit etwas gelesen hätte, wäre die Zeit verflogen. Doch jetzt, da ich darauf warte, dass ich dieses nervige Etwas endlich irgnorieren kann, ziehen sich die Sekunden wie Kaugummi. Dabei könnte sich sogar eine Stunde bei einer guten Beschäftigung anfühlen wie ein Wimpernschlag.
Ja, sogar ein Jahr kann sich anfühlen, als würde es im Zeitraffer an uns vorbeifliegen.
Doch beides kann sich auch unendlich in die Länge ziehen, sodass man sich fragt, wann diese eine Situation endlich der Vergangenheit angehört.
Dabei ist eine Stunde immer eine Stunde. Und ein Jahr ist immer ein Jahr.

Sind Zeitreisen also in gewisser Weise doch möglich? Nur anders als gedacht?
Immerhin ist es immer dieselbe Zeit, die vergeht. Doch das Empfinden dafür ist total verschieden.

Während ich das Buch zur Seite lege und mir die Uhr ansehe, kommt mir ein weiterer Gedanke.

Wenn Uhren die Zeit Sichtbarmachen sollen, haben sie einen Fehler: An ihnen kann man die Zeit zurückdrehen. Im realen Leben ist das nicht möglich. Einmal Geschehens kann man nicht ungeschehen machen.
Genauso wenig kann man die Zeit anhalten. Aber wenn die Zeiger einer Uhr still stehen, ist die Zeit dennoch angehalten. Paradox.

Wie einfach und schön es doch wäre, könnte man die richtige Zeit stellen wir eine Uhr.
Man könnte Fehler wieder gutmachen, unangenehme Situationen einfach überspringen und die schönen Momente unendlich lange andauern lassen. Aber wären sie dann immer noch so schön?

Meine Gedanken wandern zu dem letzten Augenblick, an dem ich die Uhr am liebsten angehalten hätte. Wenn dieser Augenblick bis heute anhielte, wäre ich immer noch genauso glücklich?

Doch so weit komme ich aufgrund des Störgeräusches mit meinen Gedanken dann doch nicht.

Stattdessen wird mir etwas anderes bewusst.

Eigentlich ist das Ticken, oder gar die Uhr, nichts Anderes als ein Versuch, etwas nicht Messbares messbar zu machen.

Die Zeit.

Aber was genau ist Zeit?

Zeit herrscht über alles. Es gibt nichts auf dieser Welt, was sich der Zeit nicht beugt. Und vielleicht sogar nichts im ganzen Universum und darüber hinaus. Aber wer kann das mit Sicherheit sagen?
Und doch kann man sie nicht wählen. Niemand kann sie besiegen. Stattdessen wird man besiegt.
Und niemand kann die Zeit sehen oder anfassen. Man kann sie nicht begreifen.

Aber stimmt das? Wenn die Tage vergehen und zur Nacht werden, ist das dann ein Sichtbarmachen der Zeit? Oder eine Uhr, wie die, deren Ticken mich um den Verstand bringt?
Oder sind diese Einheiten von Tag und Nacht nur der Versuch eines kleinen Untertans, den großen Herrscher greifbar zu machen? Da der Mensch mit seinem kleinen Verstand sonst um eben jenen gebracht würde?

Man kann die Auswirkungen der Zeit sehen. In den Antlitzen der Menschen, die älter werden, Jahr um Jahr. In Dingen, die sich verändern.

Das können außer dem Altern auch abstrakte Dinge sein. Etwa die Entwicklung einer Beziehung, ob nun ins Positive oder Negative. Oder die Veränderungen der Umgebung, sei es durch die Jahreszeiten oder durch anderes Geschehen.
Wenn ich etwa an das Feld denke, in dem ich als Kind gerne gespielt habe: Nun ist da keins mehr. An Stelle des Getreide befinden sich nun Häuser. Das ist ein unleugbarer Beweis für Veränderung.

Ein unleugbarer Beweis für sie.

Und doch hat noch niemand die Zeit gesehen. Trotzdem ist sie da. Und bestimmt alles.

Oder ist die Zeit lediglich etwas menschengemachtes? Etwas, das uns hilft, Ereignisse einzuordnen, weil ein Mensch gerne in Schubladen denkt und Dinge ordnen will?

Oder tickt die Zeit schlicht und einfach vorwärts, von Sekunde zu Sekunde. Von Schlag zu Schlag und wir sehen sie doch?

Schließlich stehe ich seufzend auf und verlasse den Raum. 

NoëmaWhere stories live. Discover now