Kapitel 1

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Gedankenverloren lief ich durch die Gänge. Betrachtete die grauen Wände, die weißen Fliesen unter meinen Füßen. 

Hing meinen Gedanken nach und nahm keinerlei Menschen wahr, die ihren Weg mit mir teilten. Es war, als würde ich mich in meiner eigenen Blase bewegen und keiner konnte sie durchdringen. Ich war geschützt durch ihre Wände, doch gleichzeitig hüllten sie mich wie in Watte und nahmen mir jegliche Möglichkeit, mit der Außenwelt zu interagieren. 

Ich nahm den Klang meiner eigenen Schritte nur entfernt war, meine Beine bewegten sich von allein und ich hatte keinen Einfluss darauf, wohin sie mich führten. Natürlich wusste ich, wo ich enden würde, allerdings ließ ich es dieses Mal zu, ohne mich dagegen zu weigern. Lange genug hatte ich es mir verboten, diesen Weg zu gehen und mich mit diesem Ort zu konfrontieren. Wie in Trance stieß ich die Glastür auf und die kalte Winterluft holte mich zurück in die Realität. Sie fühlte sich an wie eine Ohrfeige, allerdings hatte ich wohl genau das gebraucht. Ich atmete ein und spürte, wie die eisige Luft meine Lungen füllte. Langsam ließ ich die Luft wieder entweichen und vor meinem Gesicht bildete sich eine kleine weiße Wolke. Ich war die Kälte nicht mehr gewohnt. Meine Hände waren rot, meine Wangen heiß vor Kälte und nicht vor Hitze, wie ich es die letzten Jahre gewohnt war. Zitternd tasteten meine Finger in meiner Jackentasche nach meinen Zigaretten. Ich holte das Päckchen und das schwarze Feuerzeug, das ich vor Jahren meinem Bruder geklaut und erstaunlicherweise nie verloren hatte, aus meiner Tasche hervor. Ich zündete mir eine Zigarette an und ließ den Rauch in meinen Brustkorb strömen. 

Langsam gewöhnte ich mich an die Temperatur und das Zittern meiner Hände wurde weniger. Das Nikotin breitete sich wärmend in meinem Körper aus. Eine schlechte Angewohnheit, die ich nie ablegen konnte. Mir war natürlich klar, welche negativen Konsequenzen das nach sich zog, allerdings waren die Zigaretten mein treuer Begleiter durch viele Momente hindurch, und so viel ich auch an mir gearbeitet hatte die letzten Jahre, diesen Schritt konnte ich noch nicht gehen.

Ich merkte erst, dass ich meine Augen geschlossen hatte, als ein Windstoß mein Gesicht streifte. Langsam öffnete ich sie und sah mich um. Kaum etwas hatte sich verändert seit ich das letzte Mal hier war. Der Platz war nach wie vor gepflastert und gesäumt von jungen Bäumen. Sicherlich waren sie im Sommer immer noch voller Leben und leuchteten grün, während sie jetzt eher kahl und grau wirkten. Was konnte man auch mehr von der Natur erwarten, bei diesem Wetter. Ich blickte auf den Parkplatz, der hinter dem steinernen Platz lag. Kaum ein Auto stand hier, die meisten hatten auf dem Hauptparkplatz geparkt. Ich atmete tief durch und bewegte mich langsam auf eine der Steinblöcke zu, die als Bänke dienten. Ich ließ mich darauf nieder und sah nun direkt auf das Gebäude, aus dem ich erst vor wenigen Minuten getreten war. Ich aschte ab und nahm einen weiteren Zug meiner Zigarette. Meine Gedanken nahmen ihren Lauf und ich sah mich, wie ich noch vor einigen Jahren tagtäglich durch die Gänge hier lief. Es fiel mir nicht schwer, mich daran zurückzuerinnern, wie schlecht es mir damals ging. Jede Woche nahm ich diesen Weg auf mich, lief an der Glastür vorbei, durch die ich den Gang gerade erst verlassen hatte und stieg die Stufen zum ersten Stock hinauf. Das war meine Flucht, mein sicherer Hafen, diese 45 Minuten jede Woche gaben mir Kraft. Genauestens achtete ich darauf, dass mir niemand folgte, den ich kannte und alle meine Freunde und Bekannte bestenfalls zu Hause oder im Unterricht waren. Ich musste traurig auflachen, als ich daran dachte wie unfassbar jung ich damals war, und wie viel Angst ich davor hatte, dass irgendjemand rausfand wie schlecht es mir eigentlich ging. Altbekannte Wut stieg in mir auf. Ich hatte gelernt, damit umzugehen, aber gerade wollte ich sie spüren. Ich wollte trauern, für mein jüngeres Ich, das viel zu jung war, um mit all diesen Dingen belastet zu werden. Diese Belastung hatte ihre Spuren hinterlassen, und mich gebrochen. Nicht so weit, dass ich mich nicht wieder selbst zusammen kitten konnte, aber sie hatte Teile in mir gebrochen. So hart hatte ich die letzten Jahre daran gearbeitet, die Teile wieder zusammenzukleben und neue zu formen. Deshalb hatte ich mich auch jetzt, Jahre später, dazu entschieden mich mit diesem Ort zu konfrontieren. 

Mittlerweile hatte ich auch gelernt, dass es nicht für alles einen Schlussstrich gibt. Manche Dinge enden unschön und ohne, dass man jemals Antworten auf all seine offenen Fragen bekommt. Alles was man damit tun kann, ist sich damit abzufinden und für sich selbst damit abzuschließen, zu akzeptieren, dass es zu Ende ist. Ich hatte gehofft, dass hierherzukommen, der letzte Schritt war, um endlich meinen Frieden damit zu finden. Ich würde sie vermutlich nie wieder sehen, nie Antworten auf meine Fragen bekommen, und das war okay so. Alles was ich wollte, war das letzte Fünkchen Wut loszuwerden, das immer wieder in mir aufkeimte, wenn ich daran dachte. Ich musste es loswerden, um mich und mein jüngeres Selbst endlich heilen zu können. 

Ich überlegte gerade, ob ich einen Schritt weiter gehen und diesen einen Raum aufsuchen sollte, als ich blonde Haare wahrnahm, die durch den Gang an der Glastür vorbeiwehten. Erst dachte ich, mein Gehirn hätte mir einen Streich gespielt, und schüttelte meinen Kopf, um wieder klar denken zu können und diese Halluzination loszuwerden. Meine Zigarette war mittlerweile verglüht, und ich warf sie treffsicher in den Mülleimer am anderen Ende der Steinbank. Zeitweise waren meine Hände so kalt geworden, dass ich sie kaum mehr spürte. Als ich wieder aufsah, wusste ich, dass ich mir all das nicht eingebildet hatte. Ich sah sie, groß, so schlank wie vor Jahren, mit blonden schulterlangen Haaren. Auch wenn ich sie nur von hinten erkennen konnte, wusste ich trotzdem sofort, dass sie es war. Sie lief zielsicher, gehüllt in einen grauen Mantel, über den Pausenhof, und steuerte auf den Parkplatz zu. Was ich als nächstes tat, lief alles wie automatisch. Ich sprang auf, riss die erste Glastür auf und öffnete hektisch die gegenüberliegende, die direkt auf den Pausenhof führte. Normalerweise wurde sie nur als Notausgang benutzt, doch das konnte mir gerade nicht egaler sein, Schülerin war ich auch schon lange keine mehr. Ich rannte und meine Lungen brannten, doch ich holte sie ein. Zwei Meter hinter ihr blieb ich abrupt stehen. Ich wollte schreien, doch das einzige was ich zustande brachte, war ein leises ,,Frau Klaas''. 

Ich hatte geflüstert, doch sie hatte mich sofort gehört.

UnendlichkeitWhere stories live. Discover now