Zero. One

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»Papa?«

Keine Antwort.

»Papa!«, rief sie erneut.

Wieder keine Antwort.

Hilflos lief sie durch den kalten Korridor. Suchend nach ihrem Papa.

Normalerweise war er immer in ihrer Nähe. Und wenn nicht er, dann war es einer ihrer Freunde.

Ihre Freunde redeten nicht viel und waren zu dem noch viel älter, als Leila.

Sie wusste nicht, wie ihre Freunde hießen. Sie wollten es ihr einfach nicht erzählen. Aber das interessierte sie nicht. Sie kannte nur die ›weißen Männer‹. So nannte Leila sie immer.

»Papa!«, rief sie diesmal noch lauter.

Ihre Stimme selbst hallte die Gänge nieder. Diesmal musste er sie gehört haben. Da war sie sich sicher.

»Leila?«

Langsam drehte sie sich zu der Person. Es war nicht Papa, es war nicht einer ihrer Freunde. Es war die Ärztin, die sie nicht mag. Sie tut ihr immer weh und verlangt nach Dingen, die sie nicht kann.

»Komm mit mir. Papa wartet schon auf dich.«

Die Ärztin lächelte sie an, aber nur Leila wusste, dass sie sich dazu zwingen musste, um freundlich zu wirken.

Widerwillig nahm sie die Hand der Ärztin. Sie wollte sich nicht gegen sie wehren. Wenn sie sich nämlich wehren würde, dann wird sie wieder ärger von ihrem Papa bekommen. Und sie hasste es, ärger zu bekommen.

Sie wurde in einen Raum gebracht. An der Tür stand mit großer Aufschrift ›Nur für Personal‹.

Misstrauisch runzelte sie die Stirn. Normalerweise waren Räume mit dieser Aufschrift ein Tabu für sie gewesen.

Sie fühlte sich nicht wohl bei dem Ganzen. Und die kühle Atmosphäre machte es nicht besser.

»Papa?«

Diesmal klang ihre Stimme nicht verzweifelnd suchend nach ihrem vermeintlichen Vater, sondern vorsichtig und zerbrechlich.

Sie konnte die ganze Stimmung nicht wirklich deuten. Alle schienen irgendwie bedrückt, aber gleichzeitig aufgeregt zu sein. Ihre Freunde sahen wir hypnotisiert aus der großen Fensterscheibe, die die gesamte rechte Wand verzierte.

»Da bist du ja!«

Ihr Papa sah sie mit einem glücklichen Lächeln an und kniete sich zu ihr runter. Leila zögerte einen kurzen Moment. Das unwohle Gefühl in ihren Bauch breitete sich immer weiter aus.
Irgendetwas in ihr, sagte ihr, dass etwas Neues sein wird.

Nur gab es da eine Sache, die er und alle anderen auch wissen: Leila mag keine neuen Sachen.

Alle, was etwas verändern kann, hasst Leila abgrundtief. Es verändert ihre Sicht auf Dinge, die nicht verändert werden sollten. Und das mag sie nicht. Sie hasst es.

»Ich möchte dir jemanden vorstellen«, sagte ihr Papa ruhig. Seine Stimme klang beruhigend und deute auf nichts daraufhin, was ihr schaden könnte.

Trotzdem gab es da etwas, was sie verunsicherte.

Die Falte auf der Stirn ihres Vaters, sobald es da etwas gibt, was ihn beunruhigt.

»Papa hast du Angst vor mir?«

Ihre Stimme zitterte. Wollte er sie loswerden? Oder gab es da einen neuen Arzt, der sie untersuchen möchte?

Ihre Augen füllten sich nach und nach mit mehr Tränen. Mit ihrer Hand umklammerte sie fest den Fingern, an dem sie ihren Vater zum Bluten brachte.

Mit seiner anderen Hand streichelte er über ihrer Wange. »Ich habe keine Angst vor dir«, versicherte er ihr und strich mit seinen Daumen, eine Träne weg. »Ich würde niemals Angst vor dir haben.«

»Und was ist mit der Ärztin? Hat sie Angst vor mir?«

Sie warf einen flüchtigen Blick auf das rechte Bein der Ärztin, welches von oben bis unten in einen weißen Verband eingewickelt war.

Wieder sah sie zu ihrem Vater, doch dieses Mal antwortete er ihr nicht. Sie wartete und wartete, doch er gab ihr keine Antwort auf ihrer Frage.

»Komm mit mir.«

Ohne sie zu fragen, nahm er ihre Hand und führte sie in das Nebenzimmer.

Vorsichtig sah sich im Raum um. Aber es sah dem vorherigen Raum zum Verwechseln ähnlich. Nur mit dem Unterschied, dass das große Fenster nun nicht durchsichtig war, sondern ein tiefes Schwarz.

Außerdem saß dort jemand in der Mitte des Zimmers. Er war größer und sah irgendwie anders aus, als sie.

Er hatte längere Haare als sie. Und er war älter. Vielleicht nicht so alt, wie ihre Freunde, aber auf jeden Fall älter.

Er musterte sie, genauso wie sie ihn. Er machte ihr irgendwie Angst.

Sie wollte sich hinter ihren Papa verstecken, doch er war plötzlich nicht mehr da.

Langsam ging sie immer weiter nach hinten und ließ dabei nicht die Augen von den Jungen. Mit dem Rücken drückte sie sich immer weiter gegen die kalte Tür.

Erschrocken zuckte sie zusammen, als der Junge anging zu sprechen.

»Welche Zahl bist du?«

Sie antwortete ihm nicht. Er war etwas Neues und sie hasste neue Dinge. Sie hasst ihn.

Sie sah weg von ihm und schaute stattdessen zu der großen schwarzen Fensterwand. Leila wusste, dass Papa dahinter stand. Warum versteckt er sich? Hat er etwa doch Angst vor ihr?

Ihre Aufmerksamkeit widmete sich wieder dem Jungen, der nun aufgestanden war. Die Schritte, die er auf sie zukam, drückte sie sich immer fester gegen die Tür.

Langsam zog er den Ärmel seines weißen Hemdes hoch und zeigte ihr eine Zahl.

001

Noch immer nicht wirklich entschlossen mit der Sache, die sie dort tat, zeigte sie ihm beide ihrer Handgelenke, doch auf beiden stand keine Zahl.

Eine Falte bildete sich zwischen den Augenbrauen von Eins. Dachte er über etwas nach?

»Darf ich dich Eins nennen?«

Schnell hielt sie sich mit den Händen den Mund zu, als sie bemerkte, dass sie soeben mit ihm gesprochen hatte.

Sie wollte nicht mit ihm reden. Sie redet nicht mit Leuten, die sich nicht mag.

Er sah wieder zu ihr. Seine Augen deuteten etwas, was sie nicht beschreiben konnte. Hatte sie was Falsches gesagt? Hasste er sie jetzt auch?

»Bitte hab keine Angst vor mir.«

Diesmal presste sie die Lippen aufeinander. Sie durfte nicht mit ihm reden.

Leicht zuckten seine Mundwinkel nach oben. »Ich hab keine Angst vor dir.«

Aber das sollte er. Wenn sie Angst vor sich hat, warum tun es dann dir anderen nicht?

»Ich bin Null.«

𝔏𝔬𝔰𝔱 𝔦𝔫 𝔱𝔥𝔢 𝔡𝔞𝔯𝔨𝔫𝔢𝔰𝔰 𝔬𝔣 𝔬𝔲𝔯 𝔪𝔦𝔫𝔡𝔰 || Stranger ThingsWhere stories live. Discover now