Fast ein Jahr

9 2 2
                                    

Hey Schwesterherz, ich soll die Liebe Grüße von Peter ausrichten. Er hätte sich gefreut, wenn seine Tante zu seinem Geburtstag gekommen wäre. Wir alle hätten uns gefreut dich mal wieder zu sehen

Ich atmete tief durch, lächelte und versuchte so normal wie möglich zu klingen:" Ja tut mir leid. Die Arbeit hält mich hier fest. Aber ich hoffe ihr habt alle viel Spaß."

Die Arbeit? Wirklich Livy? Du kennst bessere Ausreden. Aber was spielt das für eine Rolle? Sie wissen es. Sie wissen warum du nicht bei ihnen bist. Warum du nicht in Berlin bist. Warum du dich in einem kleinen italienischen Dorf versteckt.

"Es würde dir gut tun wieder unter Menschen zu kommen."

"Aber ich bin unter Menschen, Celina. Alle sind sehr nett hier."

"Ich rede von Menschen, die nicht jeden Moment an einem Herzinfarkt  oder an Altersschwäche sterben könnten. Du solltest wieder unter die Lebenden kommen, findest du nicht auch?"

Es sollte witzig klingen.  Aufmunternd. Celina war ein fröhlicher Mensch und wollte ihre Lebensfreude mit jedem teilen. Früher war ich auch so. Aber jetzt nicht mehr.

"Ich kann nicht. Ich kann nicht zurück. Nicht in dieses Land, nicht in diese Stadt."

"Serena, sein Tod ist nun fast ein Jahr her. Es wird Zeit, dass du wieder lächelst und ich rede nicht von einem gefakten Lächeln. Fang wieder an zu strahlen.  Lerne jemand neues kennen. "

Jemand neues kennenlernen.  Das sagten sie mir schon so oft. Aber ich kann es nicht. Ich darf das nicht. Ian war alles für mich. Mein bester Freund, die Liebe meines Lebens, meine Welt, mein Retter, mein Verlobter, mein Held. 
Wieder stiegen mir diese Gott verdammten Tränen in die Augen und ich fühlte dieses ziehen in meiner Brust. Es tat weh. Aber so wusste ich wenigstens, dass er wirklich  existierte.

" Hör auf...bitte. Du weißt nicht worüber du da redest. Ich kann das nicht. Ich kann ihm das nicht verzeihen. Ich kann ihn nicht gehen lassen, versteht ihr das nicht?" Ich hörte mich erbärmlich  an, verheult und verzweifelt. 

Celina seufzte:" Weißt du, wir alle haben Ian geliebt. Er war ein Held für uns alle. Du wärst so glücklich mit ihm geworden." Autsch, warum muss sie mir das so vor Augen führen?" Aber er ist Tod, er ist gestorben, als Held, weil er diese Kinder retten wollte. Es ist scheiße aber es ist so. Wir vermissen ihn alle aber..."

"Ich sagte hör auf! Tu das nicht. Tu nicht so, als sei sein Tod gerechtfertigt.  Er hätte das nicht tun sollen. Er hatte kein Dienst. Er war mit mir schon fast auf den Weg. Ich kann ihm das nicht verzeihen. Sag Peter alle Gute von mir und gib Mum einen Kuss von mir. Ich hab euch lieb."

Damit legte ich auf und vergrub mein Gesicht in meine Hände. Sie verstehen es nicht. Wieso verstehen sie es nicht? Ich schloss die Augen und atmete tief durch.
Jedes Mal, wenn ich sie schloss sah ich ihn. Mit seinen blonden, langen Haaren, seinen blauen, wachen Augen, seinem warmen, liebenswürdigen Lächeln und mit einem Ring am Finger. Einem Verlobungsring. Unser Verlobungsring. Wir wollten heiraten. Hier in Italien, in Rom und dann in unseren Flitterwochen  durch Italien reisen. Wir waren schon auf dem Weg zum Flughafen. Wir hatten Berlin schon fast verlassen, als dieser dämliche Anruf kam. Und dieser Schweißkerl von Verlobter musste ihn auch annehmen. Er entschied sich zurück zu fahren, seine Pflicht zu tun und mich zurückzulassen.

Als ich mich endlich beruhigte, verließ ich den Pausenraum und ging zurück zu meinen Kunden.
Ich hatte eine kleine, gemütliche Bäckerei, hier in diesem kleinen Dorf. Die Leute hier liebten meinen Laden und ich genoss ihre Gesellschaft. Hier wusste niemand wer ich war, was passiert ist.
Hier konnte ich es verdrängen, bis ich mich Abends an alles erinnern würde und mich wieder in den Schlaf weinte.

"Da bist du ja. Meine Güte, du hast aber lange mit deiner Schwester telefoniert. Die Kunden fragen schon die ganze Zeit nach deinen Zimtschnecken. Ich hab den Ofen zwar schon ausgemacht, konnte die Köstlichkeiten aber noch nicht rausholen. Hier herrscht Hochbetrieb."

"Schon okay Feli. Ich übernehme die Kasse. Kümmere du dich um die Waren."

Feli. Oder auch Felicia. Sie ist meine beste Freundin hier in Italien. An meinem ersten Tag fand sie mich betrunken am Wegrand und nahm mich bei sich auf. Sie ist die einzige, die hier bescheid weiß. Sie hörte sich meine Sorgen und Probleme an, trocknet meine Tränen und machte mich zu ihrer Mitbewohnerin. Seit dem waren wir beste Freunde und wie so ein typischer Plan von besten Freunden eben aussieht, eröffneten wir diese Bäckerei.
Von dem Tag der Eröffnung an, hatten wir einen riesen Erfolg.
Wir bekamen sogar Aufträge von Cafés in Rom.

Feli nickte und überließ mir die Kasse. Bei diesen Menschen fiel es mir leichter, meine vor Lebensfreude sprießende Maske aufrechtzuerhalten. Leichter, als bei meinen Freunden und Bekannten in Deutschland.

"Buongiorno Signora."

Die Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ließ mich Aufsehen. Der Akzent war deutlich heraus zu hören. Dieser Mann mit braunen, leicht gelockten Haaren, rehbraunen Augen und einem freundlichen Lächeln war kein Italiener.

"Americano?" Fragte ich. Der Mann lächelte nun etwas ertappt und sprach nun auf Englisch zu mir.

"Was hat mich verraten? War meine Aussprache so schlecht?"

Ich lächelte:" Man konnte Ihren Akzent deutlich heraushören."

Entwaffnent sah er mich an und fasste sich an seine Brust. An seine sehr trainierte Brust. Gott, ich hatte schon zu lange kein Sex mehr... Was denke ich da überhaupt? Konzentrier dich verdammt noch mal Serena! Ich räusperte mich.

"Nun, was hätte der Herr Americano gern?"

"Herr Americano? Der Name gefällt mir. Ich hätte gern drei von den Maritozzi und eine Wegbeschreibung nach Rom. Ginge das? Mein Navi hat den Geist aufgegeben." Er setzte ein Lächeln auf, dass dazu bestimmt war, jemanden zu Verführen. Ob er so immer seinen Willen bekam? Ob er eine Führungspersönlichkeit ist? Ein CEO einer machtvollen Firma? Ganz nach dem amerikanischen Klischee?

"Drei Maritozzi, das macht 8€. Die Wegbeschreibung bekommen sie kostenlos dazu, Signor."
Ich lächelte ihn freundlich an.

"Sie sind ja zu freundlich, Miss." Er gab mir 8€ und holte sein Handy raus um mir eine Karte zu zeigen. Ich lehnte mich etwas über die Theke um besser sehen zu können.

"Na schön, sie müssen der Landstraße fünf Kiometer folgen. An der Kreuzung dann nach links und schon sollten sie auf die Autobahn gelangen. Ab da ist alles ausgeschildert."

Ich sah wieder auf und sah ihm direkt in die Augen. Er grinste und ich konnte seine makellos, weißen Zähne sehen.
"Vielen Dank! Nach dieser wunderschönen Beschreibung werde ich den Weg nach Rom sicherlich finden."

Baggert er mich gerade an? Eigentlich fand ich diese direkten, schamlos Anmachen immer abscheulich. Ich verbrachte eindeutig zu viel Zeit mit alten Menschen. Ich habe meine Immunität gegenüber Casanovas verloren.

Signor Americano - Zeit heilt alle WundenWhere stories live. Discover now