Kapitel 4

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Ich fuhr aus dem Schlaf hoch, als ich jemanden schreien hörte. Vaughn hatte seinen Arm um mich gewickelt, sodass ich mich kaum bewegen konnte. Fest, wie der Griff der berüchtigten Wyrenis, eine der stärksten Würgeschlange, machte er keine Anstalten mich loszulassen. Er atmete unruhig und sein Herzschlag raste unkontrolliert. Ich strich ihm eine dunkle Strähne aus dem Gesicht und legte ihm eine Hand an die Wange. Er verzog das Gesicht und keuchte.

„Vaughn, das ist nur ein Traum. Wach auf!", forderte ich und rüttelte ihn leicht an der Schulter. Ich legte meine Stirn an seine, verband meinen Geist mit seinem und schreckte zurück. In seinem Inneren herrschte pures Chaos. Seine Schutzmauer lag in Trümmern. Seine Empfindungen wirbelten durcheinander, seine Träume, seine Erinnerungen vermischten sich mit der Realität.

Besänftigend ließ ich meine Magie durch seinen Geist streifen, verteilte gleichzeitig unzählige Küsse an seiner Schläfe, richtete seine Mauer Stein für Stein wieder auf, beruhigte die wütenden Wirbel.

„Belle", murmelte er. Seine Stimme brach vor Verzweiflung von dem, was er gezwungen war mitanzusehen.

„Alles gut. Ich mache das." Sein Griff um meine Taille lockerte sich und er strich meine Wirbelsäule entlang.

„Sprich mit mir", bat ich ihn leise. Er seufzte schwer. Und ich ließ meine Magie ein letztes Mal durch seinen Geist wandern, bevor ich mich zurückzog.

„Das werde ich." Aber nicht jetzt, fügte ich im Stillen hinzu. „Danke, Belle." Er küsste meinen Hals, mein Schlüsselbein und ich bemerkte erleichtert, dass sein Atem sich wieder beruhigt hatte.

Es dauerte nicht lange bis er wieder einschlief. Ich war jedoch hellwach und beschloss, nach einem Blick aus einem der Fenster, aufzustehen. Ich deckte Vaughn vorsichtig wieder zu, schob den Vorhang des Himmelbetts zur Seite und schloss auch die Lücke, durch die ich gerade das Fenster sehen konnte. Mina hatte mir gestern schon durch die Blume mitgeteilt, dass Vaughn mich die drei Tage keinen Moment aus den Augen gelassen und weder gegessen noch geschlafen hat. Frische Kleidung lag auf der Lehne einer Chaiselongue und daneben standen schwarze Stiefel. Ich streifte mir das schlichte Kleid über, legte den Umhang um und schlüpfte in die Stiefel.

Der Boden in den Gemächern bestand aus Lapislazuli, einem tiefblauen kristallenen Gestein, das im Licht der Sonne glänzte und funkelte. Ich wusste nicht, wer die Lady von Bruix war, der dunkle König hatte mich immer strikt aus allen politischen Entscheidungen herausgehalten, doch verfallen, wie ich anfangs dachte, war die Burg keineswegs. Sie bewies eindeutig Geschmack.

Das sagte mir nicht nur das riesige Ankleidezimmer, vollkommen in Weiß und Silber gehalten und mit schweren kristallenen Kronleuchtern ausgestattet, sondern vor allem das Lesezimmer. Es lag in einem der Erkerzimmer, alle Seiten des Raumes waren mit Regalen bedeckt, die über und über mit Büchern gefüllt waren. Und dennoch stapelten sich weitere Bücher auf dem Lesetischchen, der kleine Beistelltisch war kaum noch zu sehen und auf den Fensterbänken, um die Regale herum gebaut waren, war nur noch so wenig Platz, dass eine schmale Person neben den Türmen, gestapelt aus verschiedensten Büchern, Platz hatte.

Es gab nur zwei Sessel, beide in einem blassen Gelb und auf einem Servierwagen entdeckte ich kristallenes Teebesteck. Es wirkte lebendig, als würde die Hausherrin jeden Moment zurückkehren.

Ich wandte mich ab und folgte einem meiner ursprünglichsten Bedürfnisse, stieg die steinernen Treppen hinab, ging über den Innenhof und öffnete die Tür der Stallungen. Die Stallburschen verschwanden augenblicklich und so flink, dass ich keine Gelegenheit hatte, ihnen einen guten Morgen zu wünschen.

Ich ging die Boxen entlang, streichelte warme Nüstern und kraulte die Stelle hinter den Ohren, die viele Pferde so liebten. Aus der Sattelkammer holte ich mir einen Eimer mit Äpfeln und verfütterte sie. Doch wie befürchtet wurde meine Sehnsucht nur noch größer. Mit jeder Box, in der mich nicht seine dunkelblauen Augen ansahen, nahm mein Schmerz zu.

„Ich hätte mir denken sollen, dass ich dich hier finde." Rouven lehnte am Eingang der Stallungen und grinste mich an.

„Guten Morgen", erwiderte ich.

„Schläft Vaughn noch?"

„Ich hoffe es." Rouven nickte zustimmend.

„Bist du wieder fit oder schonst du dich noch?" Ich sah ihn mir genauer an. Die Art, wie er sich lässig anlehnte und der angespannte Zug um seine Mundwinkel passten nicht zusammen.

„Ist Oraziel auf einer Mission?" Normalerweise war er es mit dem Rouven trainierte, wenn er sich abreagieren musste. Er nickte knapp. Gleichzeitig war ich mir seines Blickes bewusst, der genauso aufmerksam zu sein schien, wie meiner.

„Wo liegt der Übungsplatz?" Neugier und Aufregung lag in den Mienen der Wächter und Bediensteten, während ich neben Rouven herging und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich das nervös machte.

„Dein Gefährte stand tagelang am Rand eines Nervenzusammenbruchs." Auf dem Platz angekommen, warf Rouven mir ein Schwert zu und zog sein eigenes.

„Du bist unbewaffnet, Belle, was für eine angenehme und seltene Überraschung." Ich lachte und schob den Ärmel meines Kleides beiseite, um den Dolch zu zeigen, der dort in einer Schlaufe befestigt war.

„Wäre ja auch zu schön gewesen." Rouven grinste und seine Stimmung lockerte sich, sobald wir unsere Kampfposition eingenommen hatten.

„War es wirklich so schlimm?", fragte ich nach einer Weile, die wir mit leichten Schrittfolgen und aufwärmenden Schlägen verbracht hatten. Meine Muskeln wurden wärmer und mein Körper reagierte mit Begeisterung.

„Ja", erwiderte Rouven knapp. „Ich habe ihn noch nie so gesehen. Nicht einmal damals als..." Er räusperte sich. „Nicht einmal damals mit seinem Vater." Ich legte den Kopf schief und ging in einen schärferen Angriff über. Rouven wehrte ihn mühelos ab, war aber dennoch überrascht.

„Wieso habe ich das Gefühl, dass du eigentlich etwas anderes sagen wolltest?"

In dem Moment erschien Oraziel neben uns und wir hielten atemlos inne. „Was ist denn hier los?", fragte er und sah von Rouven zu mir. Ich wandte mich achselzuckend ab und gab der Wächterin das Schwert zurück, von der Rouven es vorhin erhalten hatte.

„Vielen Dank." Ich lächelte sie an und mein Blick blieb an dem Wappen Alejandras auf ihrer Uniform hängen.

Sie senkte dankend den Kopf. „Ihr kämpft sehr gut, Prinzessin. Wenn Euch nach einem Kampf ist, wäre ich gerne bereit Euch als Trainingspartnerin gegenüberzustehen. Fragt einfach nach Hazel." Dann entfernte sie sich und ich erkannte allein an der Art, wie sie sich bewegte, dass sie eine gute Kämpferin war. Wahrscheinlich sogar eine außergewöhnlich begabte.

„Das sind ja mal Neuigkeiten." Rouven seufzte als ich mich umdrehte.

„Das lebendige Gebirge wandert zurück nach Alejandra", erklärte Oraziel. „Außerdem hat König Aurelion in Alhambrien eine Delegation zu uns abgesandt. Sie müssten uns morgen erreichen. Außerdem wird die Armee langsam unruhig. Sie wollen zurück nach Arubien und im Regenbogenpalast herrscht Anarchie."

„Wir treffen uns im Ratssaal." Er grenzte direkt an unsere Gemächer und ich war vorhin an den geöffneten Flügeltüren vorbei gegangen, die einen Blick auf die holzverkleideten Wände und eine meterlange Tafel vor einer Reihe hoher Fenster mit gusseisernen Laternen dazwischen freigab. „Ich möchte erfahren, wo der Lord und die Lady von Bruix sind. Außerdem wünsche ich, dass jemand anwesend ist, der die Burg, das Land und die Bewohner kennt."

„Sehr gute Idee. Ansonsten nur der innerste Kreis?"

Ich nickte. „Wo hält Coilin sich auf?"

„Soweit ich weiß, in seinen Gemächern", antwortete Oraziel sogleich. Ich sah ihn an, doch seine Miene war vollkommen neutral.

„Ich gebe der Küche Bescheid, dass wir unsere Mahlzeit dort einnehmen." Rouven wandte sich zum Gehen. Doch, ich bemerkte den sorgenvollen Zug um seinen Mund. Vor uns lag keine leichte Aufgabe und ich hatte das ungute Gefühl, dass auch sie ihre Opfer fordern würde.

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Würdet ihr gerne mal ein Kapitel aus Vaughns POV lesen?🖤

Und heute Abend werde ich meine Geschichte Never falling deeper beenden. Ich würde mich freuen, wenn ihr vorbei schaut💙

The Lost Kingdom | PausiertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt