XVIII.

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Charlie

Ich habe sie nicht gesucht, auch wenn ich es hätte sollen. Doch irgendwie bin ich wie gelähmt.

Es ist alles zerstört.

Unsere Beziehung ist bereits zerbrochen.

Stattdessen habe ich Martin aufgesucht. Ich kauere vor seinem Grabstein und wimmere psychotisch vor mich hin. Ich kann mich kaum rühren. Mir ist auch gar nicht kalt, obwohl ich meinen Anorak im Auto gelassen habe. „Martin", flüstere ich. Ich meine, seine Stimme zu hören. Seine tiefe, melodische Stimme. Auch wenn es gar nicht sein kann, lächle ich mit geschlossenen Augen, wiege mich in dem Trugschluss, dass er da ist, hin und her.

„Martin, es tut mir so leid", flüstere ich noch einmal. Ich stelle ihn mir vor. Seine halblangen, blonden Haare, die hohe Stirn und die buschigen Augenbrauen. Seine leuchtenden, grünen Augen mit den goldbraunen Sprenkeln. Da war mal so viel Leben in ihnen. Sein schöner, geschwungener Mund.

Mein Martin. Mein bester Freund Martin. Es tut mir so leid.

Es tut mir so leid.

Es tut mir so leid.

Es tut mir so leid.

Es tut mir so leid.

Es tut mir so leid.

Es tut mir so leid.

Es tut mir so leid.


Letztes Jahr, Silvester.

Jo und ich stoßen an, sehen uns tief in die Augen und exen den Billowodka aus unseren Shotbechern in Nullkommanichts runter. „Wir sehen das Feuerwerk auf fantastische Weise", brüllt mir Jo ins Ohr, weil uns der Autolärm fast die Ohren sprengt. Es ist die gleiche Brücke wie vor ein paar Wochen, als wir uns an einem grauen Novembertag das erste Mal begegnet sind. „Klar, wir sitzen hier ganz weit oben, das ist der beste Blick", stimme ich ihr zu. Aber Jo holt plötzlich ein kleines Plastiktütchen hervor. „Nö, ich denke, das Feuerwerk wird vor allem deswegen fantastisch", lacht sie. Doch als ich realisiere, dass da Drogen drin sind, erstarre ich förmlich zu Eis. Es ist die Droge.

„Ist das Ecstasy?", frage ich mit mechanischer Stimme.

„Ja! Hammermäßig, oder?"

Sie wedelt mir mit dem Tütchen vor der Nase herum. Ich schnappe es mir und lasse es, ohne lang zu überlegen, einfach fallen. Es segelt gemäß der Schwerkraft nach unten. Jo ist sofort total aus dem Häuschen. „Bist du des Wahnsinns?", schreit sie mich an. Sie schäumt praktisch vor Wut. Sie ist richtig wütend.

„Warum hast du das gemacht?"

Ihre Stimme ist bloß ein Fauchen. 

„Weil wir keine Drogen nehmen."

Sie stößt einen ungläubigen, frustrierten Laut aus. „Das soll ich dir glauben? Dir, dem Kriminellen im Resozialisierungsprogramm, der eine scheiß Knacki-Frisur hat und..."

„Genau, Jo", falle ich ihr ins Wort. Sie verstummt abrupt. „Mir kannst du das glauben. Denn es hat mich hinter Gitter gebracht, okay?"

Naja, es gibt viele Gründe, weswegen ich am Ende hinter Gittern gelandet bin... das Ecstasy war nur ein Grund. Ich war am Ende auch zu langsam. Und zu hirnrissig. „Ich wusste doch, dass du keine Bank ausgeraubt hast", sagt sie, empört darüber, dass ich ihr eine vermeintliche Lüge aufgetischt habe.

„Doch, das stimmt auch. Jo. Aber jetzt lass uns was anderes machen. Lass uns halt rummachen, okay?", sage ich, auch wenn ich weiß, dass sie jetzt nicht nachgeben wird. Sie ist meiner Vergangenheit so nah wie noch nie zuvor. Jetzt hat sie mich, oder? Ich versuche es trotzdem und nähere mich ihrem Gesicht, während meine Hand über ihren Rücken entlangfährt. Doch sie weicht im entscheidenden Moment zurück.

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