XIV.

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Charlie

„Mann, Charlie, mir ist gar nicht kalt", sagt sie mit fast blauen Lippen. Ich lache auf, weil das so absurd ist. „Nein, gar nicht. Deswegen bibberst du auch so, stimmt's?"

Ich nehme mir meine Mütze vom Kopf und sofort dringt die Eiseskälte in mein Hirn. Vor einer Woche hat mir Jo wieder die Knacki-Frisur rasiert, weil meine Haare wirklich zu lang waren. Doch jetzt setze ich meine Mütze Jo auf die Haare, lege meine kalten Finger an ihre Wangen und küsse sie tief und heftig auf den Mund. Meine Lippen schmerzen fast ein wenig, weil wir es nicht bei einem einfachen Kuss belassen können. Es ist, als wären unsere Lippen aneinander festgesaugt und ich atme nicht mehr, fühle nur das Feuerwerk über meinen Mund bitzeln, wie tausend kleine Stromschläge und das verpasst meinem Hirn mal wieder eine so saftige Gehirnwäsche, dass ich sie durstig gegen einen Baum drücke. Wie besessen schlinge ich meine Arme um ihren Körper und liebe sie weiter, liebe sie tiefer, befeuere diese bittere Liebe. Es ist mir egal, dass meine Finger eiskalt sind, als ich unter ihrem Pullover entlang ihrer dünnen Haut der Spur ihres Bauches folge. Sie keucht auf und wir lachen daraufhin beide heiser und tonlos. Ich halte in meiner Bewegung inne und drücke mich einfach nur fest an sie.

Wenn ich ihr so nah bin, vergesse ich alles. Die ganze Scheiße. Martin. Die Bank. Das Ecstasy. Einfach alles! Dann sind da nur wir. Jo und ich. Und jetzt küsse ich sie nochmal, meine Jo.

Als Nächstes verlassen wir den ausgeschilderten Weg im Wald und klettern einen Hang hinauf. Es ist superschön verschneit alles und die Tiere und die Natur wirken ganz verwunschen. Wir rauchen aber trotzdem eine nach der anderen und werfen die Stummel in den Schnee. Scheiß Umweltsünder sind wir. Und wir sind scheiße verrückt. Und vielleicht sind wir auch scheiße verliebt, oder? Nur weiß ich nicht, ob ineinander... oder was ich genau an ihr liebe.

„Vom Rauchen wir einem schön warm", sagt sie und holpert durch die Gegend. Seit wir nicht mehr auf dem Weg sind, ist es ganz schön uneben geworden. Aber es macht mehr Spaß. Und dann finden wir den Ort. Den verhängnisvollen, bittersüßen Ort.

Der See ist zugefroren und weckt in uns ganz tödliche Fantasien. „Lass mal würfeln, wie viele Schritte wir übers Eis gehen müssen." Ich lache und schüttle bloß den Kopf. „Kannste vergessen, Jo!" Trotzdem nähern wir uns dem kleinen See immer weiter. Ich gehe ganz selbstverständlich auf ihn zu und weiß, dass wir das eh machen werden.

„Wieso? Hast du Angst?"

Sie liebt es, mich damit aufzuziehen.

„Du hast doch Angst vorm Ertrinken!"

Jetzt sehen wir uns direkt in die Augen. Da flackert etwas Wahnwitziges in ihren schwarzen Pupillen, etwas Angriffslustiges, da blitzen Leben und Tod. Da ist sie. Die verderbende Liebe, die ich für Jo empfinde, die uns beiden noch den Hals abschneiden wird.

Ich würde für sie alles tun.

Auch übers Eis gehen.

Und so tun wir es.

Wir markieren im Schnee fünf Abschnitte. Jeder Abschnitt, ein Schritt. Und dann nehmen wir beide jeder einen Kiesel vom Seeufer und jetzt wird geworfen. „Wir müssen für uns gegenseitig den Stein werfen. Der getroffene Abschnitt steht für die Schrittanzahl", erklärt sie mir. Sie denkt sich die Spiele immer aus. Manchmal frage ich mich, ob ich vielleicht das wahre Weichei von uns beiden bin. Weil ich das ohne sie nicht machen würde. „Nicht schummeln, okay? Wenn ich da vorne auf dem Eis bin, sehe ich ja den Abschnitt nicht mehr. Du bescheißt mich nicht, verstanden? Du sagst es genau so, wie es wird, klar, Charlie?"

Ich nicke eifrig.

„Und was ist dir lieber? Soll ich weit werfen, damit du schön aufs Eis rauslaufen musst, oder heute kein Bock drauf, im Eis einzubrechen?"

„Wir werfen aus drei Metern Entfernung. Triffst du über den fünften Abschnitt hinaus, muss ich trotzdem fünf Schritte gehen. Triffst du den ersten Abschnitt nicht, muss ich auch fünf Schritte gehen. Von dem her, guck einfach, dass du irgendwie in die Nähe der Abschnitte kommst."

Sie schenkt mir ein süßliches, aber auch provokantes Lächeln. Ich nicke schon wieder. „Fangen wir an?" Jetzt kickt der Nervenkitzel, denn ein Grinsen überkommt mich. Oh ja, furchtbar gerne! Ich gehe drei große Schritte weit weg von unserem makabren Schnee-Gekritzel und drücke den Kieselstein so fest zwischen Zeigefinger und Daumen, dass ich mir bestimmt die Durchblutung abklemme. Ich sehe noch einmal zu Jo, nachdem ich mich aufgestellt habe.

Ist das nicht superverrückt?

Sie strahlt mich glücklich an. Sie hat gar keine Angst. Sie freut sich sogar. Ich frage mich, ob sie sich gerade Helgas Gesicht vorstellt, falls sie das je gesehen haben sollte. Dann tut es nicht so weh, dass sie sich gleich in Lebensgefahr begeben wird. Schließlich fühlt es sich für Jo sowieso scheiße an, als Einzige bei dem von ihr verursachten Unfall so glimpflich davongekommen zu sein. So ist das auch mit mir und Martin. Ich werde mir bestimmt nachher, wenn ich dran bin, oder falls ich noch das Privileg haben sollte, drankommen zu dürfen, Martin vorstellen.

Was mache ich eigentlich, wenn Jo einbricht?

„Jetzt guck doch nicht so, du Spinner!", ruft sie mir zu. Ich sehe an ihr vorbei auf den zugefrorenen See. Die Sonne scheint trügerisch auf die glatte Fläche, weckt den Anschein, es könne vielleicht warm und schön dort auf dem Eis sein. Aber ich weiß es besser.

Da auf dem Eis ist nichts Schönes.

Nur kalt. Und kalt. Und Tod.

GUILTWhere stories live. Discover now