II.

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Charlie

Die Frage ist doch, was diese Welt im Innersten zusammenhält.

Ich saß nicht so oft im Deutschunterricht, aber eine Antwort darauf hätte ich schon ganz gerne bekommen. Immer, wenn ich durch die Stadt renne und die Reizüberflutung reinkickt – Tatütata, Motorengeräusch, Stimmengewirr, ich als stiller Punkt irgendwo dazwischen, der überfordert wird – stelle ich mir diese Frage. Hat sich Faust auch darüber gewundert, dass die Welt nicht einfach auseinanderfällt?

Klar gibt es die Naturgesetze, Gravitation und Evolutionstheorie und so was, aber was ist mit dem, das nicht von äußeren Kräften einzurahmen ist. Warum haben wir alle noch Gesichter, was hält uns zusammen, warum bleiben wir an der Erde haften, wenn wir es gar nicht verdienen, warum fließt die Wahrheit nicht aus uns raus. Warum lügen wir so gut und leben so schlecht. Warum kommt aus meinem Mund nichts raus, wenn ich vor Andy, dem Sozialarbeiter, sitze.

Ich renne jeden Abend durch die Stadt, schwitze mir den Kapuzenpulli nass. Meine entblößten Schienbeine frieren im kalten Novemberwind, aber das ist schon in Ordnung so. Kurz geht es mir wirklich gut. Ich habe das Gefühl, dass die Schuld hinter mir herrennt und ich schneller als sie bin. Ganz dicht ist sie mir auf den Fersen, aber ich hebe ab von dieser Erde, ich kann ihr entkommen. Meine Lungen schmerzen so sehr, dass mir kotzübel wird und alles verschwimmt, mir wird schier schwarz vor Augen. Man muss nur wissen, wie man die Schuld betäubt und sich dann in die Illusion flüchten, etwas gegen die Schuld ausrichten zu können. Dann haut es mich um. Ich falle in ein Loch ohne Boden. Blind, orientierungslos. Ich tänzle über das Nichts, dann spüre ich den Aufprall. Dann den Aufprall der Schuld.

Mir tut die linke Körperhälfte weh und meine Welt fällt auseinander. Ich bin angehalten und eingeholt worden, von niemand Geringerem als meinem treuen Begleiter, der Schuld höchstpersönlich. Heute hat sie mich schön gerammt.

Unter mir spüre ich den Erdboden. Meine Lungen explodieren. Jetzt ist tatsächlich alles schwarz. Kurz denke ich, dass dieses Leben jetzt endlich aus ist, aber das ist es nicht. Erst, nachdem ich ein paar Sekunden reglos im Dreck liege, wird alles wieder klarer. Die Flecken verschwinden von meinen Augen, ich sehe die Sterne am Himmel funkeln. Nein, du bist gerade nicht gestorben. Und dann sehe ich sein Gesicht in den Sternen. Es zieht mich ein, saugt mich auf, es bringt meinen ganzen Körper zum Beben, zum Schwitzen, oh Gott, dieser Schweiß, diese Hitze, oh Gott, jemand schreit.

Mein Blick schnellt zur Brücke, ein paar Meter über und hinter mir. Im ersten Moment erkenne ich nur das dunkle Stahlgerüst, sehe die Autos vorbeiflitzen. Ich möchte den Schrei noch einmal hören, damit ich nach dem Menschen dahinter suchen kann, doch jetzt ist da nur das nnnniiuuuummm der vorbeiziehenden Fahrzeuge. Ich stütze mich auf meine Handgelenke, recke den Kopf in die Höhe. Mein Brustkorb hebt und senkt sich heftig, ich bin ganz außer Atem.

Und dann höre ich es wieder. Aaaaaaaaaaarghhhhhhhhhh. Ein menschlicher, verzweifelter, gellender Schrei. Mit gerunzelter Stirn stehe ich auf und hechte näher zur Brücke heran.

Jetzt sehe ich es.

Da steht ein Mädchen schemenhaft im Wind, auf einem Absatz etwas unterhalb der Brücke, ihre Haare flattern und ihre Arme sind zu den Seiten ausgestreckt.

Sie steht ganz nah am Abgrund, fällt mir auf. Ob sie springen wird? Vielleicht sollte ich versuchen, das zu verhindern, doch gleichzeitig schleicht da die Gleichgültigkeit in mir hinauf. Die Leblosigkeit. Das Gefühl der Gefühllosigkeit. Ist nicht sowieso alles egal?

Nein, ist es nicht.

Und dann renne ich zum Gestrüpp, das den Grünstreifen von der Schnellstraße trennt. „Hey!", schreie ich, doch sie hört mir nicht zu. „Hey! Komm da runter! Du bist doch verrückt!" Ich werde mit jedem Wort lauter. Spüre am ganzen Körper die plötzliche Aufgewecktheit, die mich erfüllt. Wach bin ich. „Verdammte Scheiße! Dein Leben kann gar nicht schlimmer als meins sein! Spring nicht, sonst komme ich hoch, und muss es dir nachmachen!" Ich atme nicht mehr. Doch jetzt habe ich des Mädchens Aufmerksamkeit.

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