1 - Flucht vor der Realität

823 18 2
                                    

14.04.2021 - 01:41 Uhr - Duha

In einem großen, schwarzen Van fuhren wir bereits seit 1 1/2 Stunden durch die leeren Autobahnen von NRW nach Stuttgart. Während mein Gepäck für den Umzug das Gewicht im Auto aufstockte, brachte mich das Rumgealbere der anderen drei Fahrgesellen zur Glut. Der Stress der letzten Monate saß mir im Nacken, viel zu sehr, der mit dem Umzug verfliegen sollte. Aber nun war ich müde, erschöpft, während mein Kopf das Geschehen der letzten Monate zu verarbeiten versuchte, um noch das letzte Stück menschlichen Verstand in mir aufrecht zu erhalten. Ich fragte mich, wie lange das noch meine Psyche mitgemacht hätte, denn auch meine Reaktionen und Wahrnehmungen, mein Bewusstsein hing von ihr ab. Das lernte ich zumindest in meinem Studium, welches ich hinter mir lassen musste, so wie vieles andere auch.

Ein Neuanfang - ein neues Zuhause - eine neue Identität - ein neues Umfeld, so schwer mir dies auch fiel, aber es war zu meinem Besten.

„Hallooooo?! Duha schläfst du etwa?!", fing ich den empörten Blick meiner besten Freundin Nurije ein, die sich mit dem ganzen Körper vom Beifahrersitz abrupt nach hinten drehte.
„Jetzt sei nicht so Duha, schau nach vorn.", ertönte die nächste Stimme von rechts, die unserer Freundin Sonja gehörte, und strich mir dabei bemitleidend über die Schulter.
„Jetzt lasst das Mädchen mal in Ruhe, sie braucht euer Rumgelabbere gerade echt nicht.", erklang die dritte und letzte errettende Stimme im Auto, die dem Verlobten von Nurije gehörte, und zwar Abbas, dem ich dankend einen Blick durch den Rückspiegel zuwarf. Nurije drehte sich seufzend wieder nach vorne und Stille verhüllte das Auto. Gott sei Dank, denn genau das brauchte ich gerade.
Ich wusste, sie meinten es nicht böse und wollen mich nur vom Geschehen ablenken, aber aktuell war alles zu viel für mich. Vieles war einfacher gesagt als getan.
Wie ein Kinofilm stellte ich mir mein neues Leben in Stuttgart vor, während ich weitere Ausschilderungen zur Großstadt erblickte. Ich war froh, aus dem verdreckten Ruhrgebiet zu entkommen, auch wenn dies nicht mit meinem reinen freien Willen geschah.

Mitten in der Nacht, ohne dass es eine einzige Seele mitbekam, fuhren wir vier mit den nötigsten Dingen in Essen los. Um eine Wohnung hatte ich mich bereits frühzeitig gekümmert, auch wenn sie nicht in der schönsten Gegend lag. Viel wichtiger war es, ein neues Leben aufzubauen, ohne Angst, Gewalt und Drogen. Dafür stand ich schon viel zu viel durch, auch wenn dies hieß, sich von meinem wohlsituierten Leben zu verabschieden in ein Leben im Blockhaus.
Wer hätte es denn jemals gedacht? Hätte mich jemand vor drei Jahren gefragt, ob ich jemals in so eine Gegend umziehen würde, hätte die verwöhnte Duha von damals diese Person ausgelacht bis zum Umfallen. Aber sieh nun her - jetzt landete ich selbst dort, da mein Geld für was anderes nicht gereicht hätte. Vielleicht für die nächste Zeit, aber dafür hätte es lange nicht gut laufen können.

„Hey... mach dir nicht all zu viele Gedanken. Alles wird sich dem Guten zu wenden.", spürte ich sanft die Hand von Sonja auf meinem Bein, weshalb ich aufsah. Ich unterdrückte meine Tränen, denn ich hatte schon zu viele vergossen. Das war ein Schlussstrich. Es waren immer die selben, standardisierten Aufmunterungen, die ich zuhören bekam. Sie meinten es nur gut, aber aktuell war ganz und gar nichts gut, und wann alles sich dem Guten zu wenden würde, war mehr als nur fraglich.
„Ich hoffe doch.", erwiderte ich anschließend dennoch und sie nahm mich in ihre Arme, während ich mein Kopf auf ihrer Schulter ablegte.
Ich werde nichts und niemanden vermissen, abgesehen von den drei im Auto. Sie waren gesegnet und ich war mehr als nur dankbar, solche Menschen um mich zuhaben, von denen ich mich nun zu trennen schien.
„Was ist, wenn ich keine so tollen Freunde wie euch dort finden werde?", fragte ich. Im Ernst, wie sollte ich Menschen finden, die meine ätzende Art ertragen können und auch wollen?
„Das sollst du auch gar nicht, oder willst du uns etwa ersetzen?", hob Nurije die Augenbraue und sah mich prüfend an.
„Ach komm, nach all dem ist es unmöglich euch ersetzen zu können, für das, was ihr für mich getan habt. Das würde niemand tun.", gab ich ehrlich von mir.
„Doch wir.", gab Nurije belustigt von sich, weshalb wir schmunzeln mussten, doch keiner konnte wirklich lachen.

O.G. - Aus der ZelleWhere stories live. Discover now