Akte 1: Unbekannt

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Zaghaft zog ich die weißen Vorhänge auseinander, die mein Fenster bedeckten, und blickte noch immer schlaftrunken durch die trübe Glasscheibe hinaus auf die nahezu menschenleere Straße, dessen Oberfläche mit großen Pfützen den kargen, grauen Himmel wiederspiegelte.
Ich umfasste den vergilbten Griff am Fensterrahmen, der einst weiß war, und fühlte den bereits aufgeplatzten und abgeblätterten Lack in meiner Hand, welcher das raue, dunkle Innere nur noch spärlich bedeckte.
Das Gelenk des alten Gebildes jammerte quietschend auf und ließ sich lediglich mit roher Gewalt und dem damit verbundenen, lauten 'Kracks!' öffnen, um die kühle Dezemberluft in das kleine, steril gehaltene Zimmer des alten Waisenhauses, zu lassen.
Ich war nun schon seit etwa vier Jahren hier und so gern ich sagen würde, dass die Zeit nur so verflogen war, so unwahr wäre dies.

Mein Blick glitt über die gräuliche Raufaserbettwäsche, welche noch immer in einer Art Knäuel auf meiner durchgelegenen Matratze lag, die schon einiges sowohl mit mir als auch vor mir durchgemacht hatte, wie mir damals die Flecken es verrieten, als ich gerade erst eingezogen war.
Wobei 'eingezogen' wohl das falsche Wort war, wenn man sich vor Augen führte, dass mein gerade einmal zwölfjähriges Ich an diesem Abend eher durch die metallene Stahltür im Hintereingang geschoben wurde, apathisch wie ich war.

Doch auch nach all den Jahren hatte ich noch immer ein und dieselbe Matratze und ekelte mich vor ein und denselben bräunlichen Flecken, welche alles sein könnten und mich somit hoffen ließen, es sei lediglich Blut und die gelblichen Abdrücke nur verfärbte Fasern vom Alter des Stoffes.

Wie jeden Morgen, oder wie in diesem Falle eher Nachmittag, durchwühlte ich die Bettdecke mitsamt Kopfkissen und dem alten, mittlerweile etwas grauen Kuschelhasen, jedoch ohne Erfolg.
Ich seufzte, ging auf dem leicht knarzenden Boden auf die Knie und blickte unter das Bett, wo sich neben Staub und längst vergessenen Münzen sowie mir fremden Haargummis einmal wieder mein zerkratztes und mit Rissen übersätes Handy befand.
Mit leichtem Ekel zog ich es über den dunkelblauen Teppich, der mein Zimmer nur wenig wohnlicher erscheinen ließ, und schaltete es nach einmaligem Abreiben an diesem ein.
Es war fast halb eins.
Vor einer Woche hatte ich um diese Uhrzeit noch Online-Unterricht, nun aber waren Weihnachtsferien.
Obwohl es kein großer Unterschied war, denn es war wohl jedem bewusst, dass nur die wenigsten Schüler tatsächlich aktiv während der Lektionen am Computer aufpassten und arbeiteten.
Ich gehörte unglücklicherweise eher nicht dazu, da selbst das Beobachten fremder Menschen auf dem Bürgersteig vor dem Waisenhaus, welchen ich von meinem Fenster aus recht gut überblicken konnte, erstaunlicherweise interessanter schien, als den trocken hinab gepredigten Worten über die Kolonisierung Amerikas von Frau Albescu.

Ich beobachtete schon immer gerne Menschen.
Wie sie Tag ein, Tag aus in Scharen diese Straße überquerten, als noch kein Lockdown war.
Ein dichtes Gedränge von Frackträgern und Frauen in vielfältigerer Business-Kleidung, meist mit dunkler Tasche und einem Handy am Ohr.
Dazwischen mischten sich immer mal wieder legerer gekleidete Personen, manchmal Gruppen, manchmal einzelne Leute.
Doch dies war mittlerweile schon eine ganze Weile her.

Seit dieser merkwürdige Grippe-ähnliche Virus namens Interitus auftauchte, wirkten die Städte immer mal wieder ausgestorben.
Jedenfalls bis die Vorkehrungen einmal mehr gelockert wurden, nur, um einige Monate später erneut alles dicht zu machen.
Und genau in dieser Phase befanden wir uns einmal wieder - ein Lockdown.
Alles, was nicht gerade lebensnotwendig war, hatte in dieser Zeit zu schließen oder die Mitarbeiter ins Home-Office zu schicken.
Lehrer unterrichteten Schüler vom heimischen PC aus, während diese vor dem eigenen Endgerät vor Langeweile einschliefen.
In die Lebensmittelläden ging es nur noch mit Mundschutz, Sicherheitsabstand und einem Einkaufswagen oder wahlweise auch einem Korb.
Psychologen warnten über die negativen Auswirkungen der Isolation, besonders auch für Kinder und Jugendliche, von denen ich allerdings nicht allzu viel gemerkt hatte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 07, 2021 ⏰

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