Kapitel 8 - die Hanswurstiaden der Königin

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Sebastian war doch ein wenig erstaunt, als sein Herr selbst um 00:00Uhr noch nicht wieder zurückgekehrt war. Für gewöhnlich beanspruchten seine Spaziergänge höchstens eine Stunde. Alles darüber hinaus war dem Earl zu mühselig. Mal war es die stechende Hitze, mal die eisige Kälte, welche ihm jedes Mal aufs Neue eine Ausrede für seine exorbitante Passivität verschaffte.

Ruhlos lief Sebastian den wahrlich überschaubaren Flur der Wohnung auf und ab, unschlüssig, wie er weiter vorgehen sollte.

Würde er nach seinem Herren sehen, hätte er endlich Gewissheit, dass dieser wohlauf war. Andererseits würde er auf diese Art und Weise dessen Befehl missachten. Und was, wenn er nun nach Hause kam, während Sebastian wie wild versuchte, ihn aufzuspüren?

Ciel würde doch nach ihm rufen, sollte er Hilfe benötigen.

Ja, das würde er bestimmt tun.

Mit diesem Gedanken tröstete sich Sebastian noch einige Stunden, doch als Ciel auch am frühen Morgen noch nicht wieder aufgetaucht war, wurde der Dämon immer skeptischer.

Er hatte sich alle nur möglichen Horrorszenarien zu dem Verbleib seines Herren durch den Kopf gehen lassen, nur um diese gleich darauf mit Müh und Not wieder zu verdrängen.

Möglicherweise war Ciel in einen Unfall verwickelt geworden?

Möglicherweise war er entführt und verletzt worden?

Möglicherweise hatte er einen erneuten Asthma-Anfall erlitten?

Möglicherweise war er gestürzt?

Ich bitte dich, Sebastian! Reiss dich zusammen! Er ist schließlich kein alter Mann!

Da wurde der Dämon stutzig. Er hatte sich noch nie selbst „Sebastian" genannt. Natürlich hatte er sich gelegentlich als dieser Vorgestellt und hörte seit elf Jahren auf diesen Namen, doch er hatte ihn noch nie zuvor als „seinen Namen" angesehen.

Er hatte noch keinen der Namen, welche ihm seine Herren im Laufe der Jahrtausende zugewiesen hatten, als „seinen Namen" angesehen.

Noch nie.

Vergeblich wartete er auf ein Zeichen, dass es seinem Herrn gut ging. Ein Funken seiner Anwesenheit, einen Fetzen seiner Stimme, ein Hauch seines Geruches. Bloß irgendetwas. Akribisch lauschte er den Klängen Londons an einem Montagmorgen, ließ sich jede noch so kleine Windböe auf der Zunge zergehen. Die Sekunden zogen sich wie ein frisches Karamellbonbon der Firma Funtom, doch nichts geschah. Aus Sekunden wurden Minuten, aus Minuten Stunden.

Ciel wälzte sich in flauschigen Kissen, zog sich die Decke über den Kopf, um den morgendlichen Sonnenstrahlen zu entkommen, entschied sich schließlich doch dazu, darunter hervor zu lugen um seinem Butler und seinen attraktiven Schultern beim Bereitlegen seiner Kleidung zusehen zu können.

Laute Stimmen holten den Earl in die doch nicht allzu selige Realität zurück.

Ciel wälzte sich auf hartem, steinernem Boden. Er konnte nicht bestimmen, ob dieser zu allem Überfluss auch noch nass, oder doch bloß überaus kalt war. Es war, als hätte man eine Textilie zum Trocknen über die Nacht nach draußen gehangen und wusste nun nicht genau, ob sie denn erneut nass geworden war oder sich durch die frischen, nächtlichen Temperaturen bloß danach anfühlte.

Er startete einen kläglichen Versuch, sich auf die Beine zu kämpfen, doch sackte er nach wenigen Sekunden wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Er fühlte sich immens geschwächt, konnte seinen Kopf nur mit Mühe ein Stück anheben. Sehen konnte er gar nicht, seine Augen waren verbunden, nein- ihm war ein Sack über den Kopf gestülpt. Darauf führte er nun auch seine übermäßigen Atembeschwerden zurück.

„Ach, sie einer an! Der lebt ja doch noch!"

„Das will ich auch für Dich hoffen! Ich habe ausdrücklich gesagt, ich brauche ihn lebendig"

„Ja, Herr. Verzeiht mir bitte. Aber, wieso genau ihn? Habt ihr doch jedem anderen an Ort und Stelle eigenhändig den Kopf vom Leib gemeuchelt, doch wollt diesen hier lebendig?"

Da Ciel vorläufig das Augenlicht geraubt worden war, versuchte er, die Stimmen seiner Entführer auszumachen. Möglicherweise hatte er diese ja schon einmal gehört und konnte sie jemandem zuordnen. Vielleicht einem Mitglied des Ferro-Clans, einem Leiter eines anderen englischen Süßwarenherstellers oder der Sphere Music Hall. Oder waren es womöglich wieder Charles Phipps und Charles Grey, die ihm seit Jahren das Leben schwer machten? Ciel hatte schon so manches Mal den Verdacht gehabt, Königin Victoria hätte ihn zum Objekt ihrer Hanswurstiaden auserkoren.

„Nun, ich wurde darüber unterrichtet, dass dieser Junge seine Nase gerne in Dinge steck, die kleine Kinder nichts angehen!", wandte sich der Kopf des Ganzen zum einen an seinen Untergebenen, zum anderen an Ciel selbst.

Nun gut, dann müssen wir wohl erörtern, welcher Verräter ihn darüber unterrichtet hat.

„Das „klein" hätten Sie sich sparen können!"

„Na sieh einer an, ganz schön frech. Aber immerhin redselig." Ciel bemerkte, wie jemand vor ihm in die Hocke ging. „Also sag mir, was weißt Du?"

Ciel straffte die Schultern. „Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen das Duwort angeboten zu haben, werter Herr."

Sein Gegenüber stieß ein mickriges Lachen aus, es war vielmehr ein geräuschvolles Luftausstoßen, vielleicht auch ein Schnauben.

Offensichtlich in seinem Stolz beschämt erhob sich Ciels Gesprächspartner wieder und ging frustriert auf Abstand.

„Nun gut, töte ihn! Tote Hunde bellen für gewöhnlich nicht."

„Geben Sie wirklich so schnell auf?", schmunzelte Ciel unter seinem Sack. „Ich hatte mich schon auf ein paar Stunden der Folter gefreut."

„Folter? Eine äußerst ineffiziente Methode, wie ich finde."

„Da muss ich Ihnen Recht geben, wir setzten auch nicht sonderlich viel darauf."

Die Stimme wurde wieder etwas deutlicher, der Mann musste sich wieder in Ciels Richtung gedreht haben. „Sagt, woher die Lust zum Smalltalk? Ich werde Euch so oder so umbringen lassen, versucht nicht, das hinauszuzögern."


Sebastian war am Ende mit den, als Dämon doch äußerst strapazierfähigen, Nerven.

Ciel war nun seit über zwölf Stunden verschwunden, das konnte unmöglich noch ein simpler Spaziergang sein.

Der Butler hatte mittlerweile auf einem der harten Stühle in einem Zimmer, welches sowohl als Küche, Esszimmer sowie auch als Aufenthaltsraum diente, Platz genommen. In dieser, für ihn sehr außergewöhnlichen Körperhaltung, er war wohl seit drei Monaten nicht mehr gesessen, hatte er die, für ihn noch um ein Vielfaches außergewöhnlichere, Empfindung der Anspannung ein wenig besser ertragen können.

Er ließ seine Blicke durch den Raum gleiten, beobachtete durch die Luft schwebende Staubkörner, bis sein scharfer Blick schließlich auf ein, sogfältig mithilfe eines Brieföffners am oberen Ende geöffnetes, Kuvert fiel.

Sebastian streckte sich ein wenig danach und als er das Papier zu fassen bekam bemerkte er neben dem Siegel des Königshauses die flauschig-graue Staubschicht, die hässlich über dem Schriftstück lag und sich offensichtlich über Nacht darauf niedergelassen hatte, in ihrer großen Menge jedoch viel eher schien, als hätte das Kuvert schon seit Napoleons Zeiten hier gelegen.
Interessiert zog er das hauchdünne Papier aus dem Umschlag und begann die Zeilen der Königin zu erfassen.

𝗟𝗼𝗻𝗱𝗼𝗻𝘀 𝗦𝗲𝗰𝗿𝗲𝘁 | Sebastian X CielWhere stories live. Discover now