Einfach weglaufen?

739 34 9
                                    


Ich hatte überhaupt nicht gemerkt, dass ich aufgestanden war, obwohl mein Stuhl mit einem laute Knall gegen die Wand polterte. Alle starrten mich an und ich bekam keine Luft mehr.

Einige Sekunden stand ich da, während die ganze Klasse schwieg. Dann hielt ich es nicht mehr aus, weil ich das Gefühl hatte, zu ersticken. Ich drehte mich um, stieß die Tür auf und rannte aus dem Raum.

Ich lief durch die Eingangshalle in Richtung der Ausgangstür, als ich hörte, dass jemand mir mit schnellen Schritten folgte.

Mit blitzenden Augen und nach Luft schnappend drehte ich mich um. „Lass mich", knurrte ich und wollte mich wieder umdrehen, doch eine Hand hielt meinen Arm fest.

„Linnea", sagte er leicht atemlos. Joe versuchte, mir in die Augen zu blicken, doch ich wich seinem Blick aus. Wir wussten beide, dass ich genau die Person war, für die Joe mich hielt, aber ich war noch nicht bereit, mir das einzugestehen.

Ich sah leichte Sterne vor meinen Augen. „Lass mich los", keuchte ich und riss meinen Arm aus Joes Umklammerung.

Auf wackeligen Beinen lief ich durch die Tür nach draußen und lief mich nach ein paar Schritten auf die Wiese fallen, um wieder zu Atem zu kommen.

Dann legte ich mich auf den Rücken und blickte direkt in Joes fragendes Gesicht. „Was denkt der sich eigentlich? Einfach meine Geschichte im Unterricht auseinanderzunehmen! Das kann der doch nicht machen!"

Meine Stimme war sehr laut geworden, aber Joe zuckte nicht einmal mit der Wimper. Ich wusste selbst nicht genau, woher meine Wut kam, aber ich wollte noch viel mehr schreien. Ich fühlte mich so in die Enge gedrängt, dadurch, dass James Bridger über mich gesprochen hatte.

Joe setzte sich neben mich auf den Boden. „Leni, also?", fragte er leise. Ich schüttelte den Kopf und schluckte. „Linnea." Joe nickte und fragte nicht weiter nach.

Langsam entspannte ich mich wieder. „Du solltest mit James reden." Ich setzte mich ruckartig auf. Joes Blick war ernst und unnachgiebig.

Trotzdem schüttelte ich den Kopf. „Linnea, er hat ewig nach dir gesucht. Er dachte, du wärst tot. Du bist einfach verschwunden."

Gereizt stand ich auf. „Joe, du bist vor vier Jahren abgehauen, während du davor jahrelang nur mit irgendwelchen Drogen zugedröhnt warst. Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Deinen Eltern beim Streiten zuhören? Zugucken wie ihre Ehe zerbricht?"

Joe biss die Zähne aufeinander. Ich spürte, wie wütend er war, aber ich war mindestens genauso wütend. Wir standen und gegenüber und starrten uns gegenseitig in die Augen.

„Willst du mir jetzt ernsthaft einen Vorwurf daraus machen, dass es mir scheiße ging? Nicht jeder kommt einfach damit klar, dass er sich in ein Tier verwandeln kann", zischte Joe, „Entweder du bist beides, Mensch und Tier oder du bist keins von beidem, du bist nichts, weil du weder das eine oder das andere wirklich richtig bist."

In seiner Stimme lagen so viele Emotionen und ich wusste, wie schwer es für ihn gewesen war, sich selbst zu finden. Ich verstand ihn und es tat weh, dass er mir vorwarf, es nicht zu tun. Zwar nur indirekt, aber es reichte mir einfach.

„Hast du bei alldem überhaupt je an mich gedacht? Du hast mich einfach allein gelassen. Deine Eltern haben nur noch gestritten. Ich hatte niemanden mehr, außer ihnen, niemanden außer euch und dann ist alles kaputtgegangen!"

Ich war so verletzt gewesen, hatte mich so allein gefühlt. Ich hatte keinen Ausweg mehr gesehen, als wegzulaufen. Ich war immer geflüchtet.

Ich könnte es auch wieder tun. Einfach wieder abhauen, alles hinter mir lassen. Joe schien meinen Stimmungsumschwung zu bemerken, denn er kam noch einen Schritt näher und umfasste meine Handgelenke.

Ich war nicht mehr wütend, sondern einfach nur noch erschöpft. Ich lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter und auch Joe entspannte sich wieder ein wenig.

Er wusste, dass er gewonnen hatte und, dass ich mit James reden würde. Wir hatten uns früher so oft gestritten, wenn es auch nur darum ging, wer das Fernsehprogramm aussuchen durfte. Aber Joe hatte immer gemerkt, wenn ich nachgegeben hatte.

Als die Klingel ertönte machte ich einen Schritt zurück und sah Joe zum ersten Mal richtig an. Er sah gesünder aus und war eindeutig clean. Unwillkürlich musste ich grinsen. Vielleicht hatte der Abstand ihm wirklich gutgetan.

Ich wünschte, das könnte ich auch von mir behaupten, aber die Zeit und all die Dinge, die passiert waren hatten mich komplett zermürbt. Wenn ich ein Ding in der Vergangenheit ändern könnte, dann würde ich entscheiden, nicht zu gehen.

Joe schob mich sanft in Richtung des Gebäudes. „Komm, wir haben gleich Englisch und wir sollten noch unsere Sachen holen."

Ich zog spöttisch eine Augenbraue hoch. „Unsere Sachen. Du vergisst, dass ich nichts besitze, außer den Klamotten, die ich anhabe."

Joe sagte nichts, sondern zog mich einfach nach drinnen, in Richtung des Klassenraums. Ein paar unsere Mitschüler kamen uns entgegen und warfen uns neugierige, fragende Blicke zu.

Vor der Tür hielt Yara mich auf. „Alles okay?", fragte sie mich leise.

„Ja klar, alles gut. War nur grad bisschen viel mit den ganzen Leuten und so", antwortete ich und sie nickte leicht.

Joe hatte seine Sachen schon geholt und hielt mir auffordernd die Tür auf.

___________________________________________________

Da ist des neue Kapitel!!!

Joe und Linnea scheinen sich ja wirklich gut zu kennen und zu verstehen, aber was wird James sagen? Was denkt ihr, was passiert, wenn sie mit ihm redet?

Das nächste Kapitel kommt am Montag, seid gespannt...

Woodwalkers, neue GesichterWhere stories live. Discover now