Teil 35 | Symbole

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Es dauerte keine zehn Minuten, bis die Rettungskräfte vor Ort eintrafen. Ich öffnete ihnen die Tür, noch bevor sie die Klingel betätigen konnten. Fünf breitgebaute Kerle in roten Uniformen stürmten an mir vorbei, direkt in den Keller, wo der grauenvolle Anblick der blutigen Leiche auf sie wartete.

Die Männer hatten allerlei Utensilien und mehrere Aluminiumkoffer dabei.
Einer von ihnen schleppte so etwas wie eine Trage mit sich.

Der Anblick der Rettungssanitäter schenkte mir ein wenig Hoffnung.
Vielleicht war die alte Frau ja doch noch zu retten.

Ich würde sie wirklich gerne fragen, wer sie war, wieso sie sich in Opa Gunnars Keller aufhielt und was ihr zugestoßen war, dass sie sich in solch einem Zustand befand.

Natürlich hatte ich mir schon eine plausible Erklärung für mich selbst zurechtgelegt. Diese sah so aus, dass es sich bei der Frau um eine Einbrecherin gehandelt haben musste, die es irgendwie geschafft hatte, in Opas Keller einzudringen.
Sie musste sich dort irgendwo verletzt haben und war dann langsam verblutet, da sie vermutlich kein Handy besaß, um Hilfe zu holen.

So weit, so glaubwürdig.

Doch tief in mir wusste ich, dass mehr dahinter steckte.
Es gab noch zu Vieles, das mir unklar war.

Beispielsweise das seltsame Gefühl, das ich beim Betrachten der Familienfotos bekam. Oder das merkwürdige Buch mit den unheimlichen Symbolen, das neben der Frau auf dem Boden gelegen hatte.

Ich wollte weiter über mögliche Zusammenhänge philosophieren, doch die Stimme von Opa Gunnar riss mich unsanft aus meinem Gedankenkarussell heraus.

"Annelie, was ist hier los? Wieso steht der Rettungswagen vor der Tür?"

Die Tatsache, dass er so plötzlich hinter mir aufgetaucht war, entlockte mir einen kurzen Aufschrei.

"Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken", fügte er mit einem liebevollen Lächeln hinzu.

"Ich... Ich weiß es nicht", log ich ihn an.
Ich hatte jetzt wirklich keine Lust, Opa zu erklären, dass in seinem Keller die Leiche einer alten Frau lag.

Er ignorierte meine Antwort.

"Sie sind im Keller, oder? Was ist passiert? Hat Rosalie sich verletzt?"

Ich wich seinem Blick aus.

"Nein, nicht direkt."

"In Ordnung. Wenn du mir nichts sagen willst, werde ich selbst runter gehen."

Und schon setzte Opa Gunnar sich in Bewegung. Er schien wirklich entschlossen zu sein, herauszufinden, was dort unten vor sich ging.

Ich packte ihn an seinem Arm und sah ihn flehend an.

"Warte, Opa. Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist."

"Ach nein? Ich weiß, ich bin ein alter Mann und bestimmt auch nicht mehr so zurechnungsfähig wie früher, aber trotzdem habe ich das Recht zu erfahren, was in meinem Keller passiert."

Mit diesen Worten befreite er sich aus meinem Griff und begann mit langsamen Schritten die Kellertreppe hinunter zu schleichen.

Ich unternahm keinen Versuch mehr, ihn aufzuhalten. Er hatte Recht.
Wenn er unbedingt sehen wollte, was da unten von statten ging, dann konnte ihm das niemand verbieten.

Obwohl ich es eigentlich vermeiden wollte, den Keller ein weiteres Mal zu betreten, folgte ich ihm.

Die lauten Stimmen der Sanitäter waren schon von Weitem zu hören.
Einer der Männer war gerade damit beschäftigt, beruhigend auf Mama einzureden, während der Großteil der Gruppe sich um die am Boden liegende Frau kümmerte.

Sie waren gerade dabei, die Leiche auf die Trage zu hieven, als Opa und ich den Raum betraten.

"Gütiger Himmel", entfuhr es Opa Gunnar, der augenblicklich einen Zitteranfall bekam.

Ich hab dich ja gewarnt, hätte ich am liebsten zu ihm gesagt, doch ich unterdrückte das Bedürfnis. Jetzt war nicht die Zeit, um rechthaberisch zu sein.

"Verzeihung, sind Sie der Eigentümer dieses Hauses?", fragte einer der Sanitäter meinen Opa.

"Ja, der bin ich. Was ist hier passiert...?"

Opas Augen waren so weit aufgerissen, dass es den Anschein machte, als würden sie bald aus ihren Höhlen fallen.

Kein Wunder. Bei dieser Szenerie wäre wohl jeder geschockt.

"Kennen Sie diese Frau?", fragte der Uniformierte weiter, ohne auf Opas Frage einzugehen.

"N-nein, ich habe sie noch nie gesehen."

"Ich vermute, dass sie eine Einbrecherin war. Sie muss sich irgendwie Zutritt zum Keller verschafft haben und hat sich dann wohl irgendwo verletzt", gab ich meine Vermutung preis.

Ich wollte schließlich nicht, dass Opa möglicherweise noch in den Verdacht geriert, irgendetwas mit dem Tod dieser Person zutun zu haben.

"Hey, moment mal", hörte ich einen der Rettungskräfte murmeln.

Als ich mich zu ihm umdrehte, hockte er auf dem Boden und hatte sich über das merkwürdige Buch gebeugt, das aufgeschlagen neben der Leiche gelegen hatte.

"Ich kenne diese Symbole...", erklärte er, mit der Stimme immer leiser werdend.

Ich näherte mich ihm langsam.

Die anderen im Raum schienen ihn kaum zu beachten. Sie waren schließlich damit beschäftigt, sich um die tote Frau zu kümmern.

"Was bedeuten sie?", fragte ich den jungen Mann, der wie gebannt über dem seltsamen Schriftstück hing.

Er schien zu zögern, ob er es mir erzählen sollte. Allgemein machte er nun eher den Eindruck, als würde er bereits bereuen, dass er dieses Thema überhaupt angesprochen hatte.

"Nun, ich weiß es klingt seltsam, aber ich glaube, dass diese Frau so etwas wie eine moderne Hexe war. Ich habe mich mal eine Weile lang mit dem Thema beschäftigt. Da ich nur Laie bin, kann ich es nicht mit Sicherheit sagen, aber das hier", er deutete mit dem Finger auf die aufgeschlagene Seite mit dem blutigen Symbol, "sieht mir nach einem Amnesie-Zauber aus."

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