Teil 32 | Omas Liebling

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Mit Entsetzen beobachtete ich die Szenerie, die sich gerade direkt vor meinen Augen abspielte.
Oma Charlotte, nun mit dem Messer bewaffnet, bäumte sich vor uns auf wie ein hungriger Zombie, der auf der Jagd nach etwas Essbarem war.

Ihre Augen loderten wie Feuer, wobei ich mir nicht sicher war, auf wen genau sich ihre Wut in diesem Moment bezog.
Womöglich war sie gar nicht wütend auf uns, sondern lediglich auf sich selbst. Wenn sie diesen einen verheerenden Fehler nicht gemacht hätte, hätten wir vermutlich nie mitbekommen, dass hier etwas nicht stimmte.

Nichtsdestotrotz war es offensichtlich, dass sie plante, uns in den nächsten Sekunden das Leben zu nehmen.

Wir hatten etwas gehört, das nicht für unsere Ohren bestimmt gewesen war.
Und jetzt mussten wir den Preis dafür zahlen.

Oma war schwach und wackelig auf ihren Beinen, als sie sich uns mit langsamen Schritten näherte.
Bei der Menge an Blut, die sie eben verloren hatte, war das auch kein Wunder.

Kurz überlegte ich, ob ich versuchen sollte, sie zu schubsen und ihr das Messer zu entreißen, doch die grelle Stimme meiner Mama riss mich von diesem Gedanken fort.

"Verdammt, leg das Messer weg, Mama! Du willst uns doch gar nicht töten!"

Ihr lautes, panisches Geschrei bereitete mir Ohrenschmerzen.

Omas zombieartiger Gesichtsausdruck wandelte sich zu einem traurigen Lächeln.

"Nein, das will ich wirklich nicht. Aber mir bleibt keine andere Wahl."

"Doch! Wir versichern dir, dass wir dein Geheimnis für uns behalten werden. Niemand wird je etwas davon erfahren. Dann muss auch niemand deswegen sterben", sagte ich mit flehender Stimme.

"Annelie, Liebes. Ich kann in deinen Augen sehen, dass du lügst. Glaub mir, bei der nächsten Übernachtungsparty mit deinen Freundinnen wirst du dieses Thema ansprechen. Du wirst die Mädchen ermahnen, es bloß niemandem zu verraten, doch sie werden es nicht für sich behalten können. Jammerschade, dass man heutzutage niemandem mehr vertrauen kann..."

Ich konnte nicht sagen, ob Oma das wirklich ernst meinte. Irgendwie bezweifelte ich, dass sie tatsächlich in die Zukunft sehen konnte, ebenso wie ich immer noch nicht hundertprozentig davon überzeugt war, dass sie die Anwendung von Magie beherrschte.

Sie behauptete zwar, dass sie Opa Gunnar mithilfe von Magie vor dem Tod bewahrt hatte, doch letztenendes konnte das auch einfach Schicksal gewesen sein.

Einzig und allein das Bild der Mitesser in Omas mysteriösem Buch machte mich stutzig - Auch wenn ich mir sicher war, dass es selbst dafür eine logische Erklärung gab, wenn man nur intensiv genug danach suchte.

Als Oma merkte, dass ich nicht auf ihre angebliche Weissagung antwortete, setzte sie sich wortlos wieder in Bewegung.

Mit quälend langsamen Schritten kam sie auf mich zu.

"Weißt du, Annelie, ich hab dich wirklich gern gemocht. Insgeheim warst du immer mein Lieblingsenkel. Natürlich darf man sich als Oma eigentlich keinen Favoriten auswählen, schließlich wollen alle mit gleich viel Liebe behandelt werden. Die Wahrheit ist jedoch, dass jede Oma ihren persönlichen Liebling hat."

Ihre Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen.

Lange würde sie sich vermutlich nicht mehr auf den Beinen halten können.
In diesem Zustand würde sie wohl kaum in der Lage sein, Mama und mich außer Gefecht zu setzen.

"Gib mir das Messer, Oma. Du hast viel Blut verloren und musst dringend ins Krankenhaus", sagte ich ernsthaft besorgt.

Anstatt mir die Waffe zu überreichen, umklammerte sie das kalte Silber nur noch fester.

"Denk doch mal nach. Wenn du uns tötest, wirst du im Gefängnis landen. Was soll dann aus Opa Gunnar werden? Sollte er in der Zeit wieder einen Herzinfarkt erleiden, kannst du ihn nicht retten. Niemand wird ihn dann retten können", fügte ich noch hinzu.

In Oma Charlottes Gesicht regte sich etwas. Mit einem Mal schien sie noch blasser geworden zu sein. Ihre Haut war nun fast schon kalkweiß und ihre Lippen färbten sich allmählich zu einem grotesken Violett.

In ihrem Kopf schien sich ein Schalter umgelegt zu haben.

Auf einmal war sie kein wütender, nach Fleisch gierender Zombie mehr. Sie hatte sich innerhalb weniger Sekunden in eine wehleidige alte Frau verwandelt, die mit ihrem eigenen Leben abgeschlossen hatte.

Was bedeutete das?
Hatte sie sich meine Worte vielleicht wirklich zu Herzen genommen?

"Gunnar... Bitte versprecht mir, dass ihr gut auf ihn aufpasst..."

"Was? Aber -"

Ehe ich meine Einwände aussprechen konnte, war es bereits geschehen.

Oma hatte sich das Messer bis zum Anschlag in den Bauch gerammt.

Blut quoll in großen Massen aus der tiefen Wunde hervor. Aus ihrem Mund drang ein leidvolles, ersticktes Husten, gefolgt von einem lauten Röcheln.

Das musste wohl das berühmte Todesrasseln sein.

"Nein!", hörte ich meine Mama im Hintergrund brüllen.

"Schnell, bringt mir das Buch! Ich werde noch einen letzten Zauber wirken..."

Während Oma sprach, wurde sie immer wieder von heftigen Hustenanfällen unterbrochen.

Ich hatte noch gar nicht richtig verarbeitet, was gerade passiert war und stand immer noch wie angewurzelt in der Ecke. Unfähig, mich zu bewegen oder irgendetwas zu sagen.

Mama hingegen reagierte sofort.

Sie holte das Buch, schlug die Seite auf, an der Oma zuletzt gearbeitet hatte und positionierte es direkt vor der alten Frau, die nur noch ein Schatten ihrer Selbst war.

Diese begann nun, das Messer in ihrem Bauch zu drehen und zu wenden, was dazu führte, dass noch mehr Blut ihren Körper verließ.

Sie benetzte ihren Zeigefinger mit der roten Flüssigkeit und begann um ihr Leben zu malen.

MitesserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt