Teil 6 | Konfrontation

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Am nächsten Tag

Mama saß mir am Küchentisch gegenüber und hatte diesen bemitleidenden Blick drauf, den sie dauerhaft trug, seitdem wir das Krankenhaus verlassen hatten.
Vor ihr stand ein Frühstücksbrettchen, auf dem ein heißer Toast mit Gouda und Tomaten trohnte. Noch nicht einen Bissen hatte sie von dieser Köstlichkeit zu sich genommen. Stattdessen sah sie mich einfach nur an, als wüsste sie nicht, wie sie am besten ein Gespräch beginnen sollte.

"Was ist?", fragte ich sie schließlich, woraufhin sie leicht zusammen zuckte.

Mama räusperte sich einmal. Ihr Blick war immer noch derselbe, als sie zu einer Antwort ansetzte.

"Ich finde, wir sollten über den Vorfall reden. Du weißt schon. Darüber, dass du dich selbst..." Und da brach die Stimme meiner Mama. Ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen, die stumm ihr Gesicht herunter liefen.

Es war wirklich selten, dass ich meine Mama weinen sah. Sobald sie emotional wurde, wusste ich nicht mehr, wie ich mit ihr umgehen sollte. Aus irgendeinem Grund war es schwer für mich, die Frau die mich zur Welt gebracht hatte, so verzweifelt zu sehen.
Ich war mit der Situation überfordert und so wartete ich tatenlos ab, bis sie endlich weiter sprach.

"Warum hast du dich selbst verletzt?!", brüllte sie mir unter Tränen entgegen.

Die Frage schwebte im Raum wie eine unheilvolle Gewitterwolke, die sich jeden Moment zu entladen drohte.

Als ich nicht antwortete, redete Mama einfach weiter. Wenn sie aufgebracht war, war sie oftmals wie ein unbändiger Wasserfall.

"Sowas hast du noch nie getan! Warum jetzt? Wer gibt dir einen Grund dafür, so etwas zu tun? Wirst du in der Schule gemobbt? Hast du Probleme mit irgendeinem Jungen? Deinen Freundinnen? Komm schon, rede mit mir!"

Ihr Gesicht war knallrot, während sie mir ihre Fragen entgegen schrie.
Mir war schon klar, was sie gerade denken musste.

Warum hast du dich selbst verletzt?

Für sie musste es so aussehen, als wäre ich in einer schwierigen Lebensphase. Ich wusste, dass es Menschen gab, die sich selbst verletzten, um Stress abzubauen. Manche taten es auch, um sich lebendig zu fühlen. Und wieder Andere verletzten sich, um Aufmerksamkeit zu generieren.

Bei mir traf jedoch keine der Begründungen zu. Einzig und allein die Mitesser waren Schuld, dass ich zu solchen Mitteln greifen musste.

"Mama, beruhig dich doch mal. Ich hab das nicht getan, weil es mir schlecht geht, sondern um die Mitesser loszuwerden", versuchte ich in ruhigem Tonfall zu erklären.

Anstatt Verständnis zu zeigen, schüttelte Mama nur heftig mit dem Kopf.

"Schon wieder diese merkwürdige Erklärung. Im Krankenhaus hast du auch über Mitesser gesprochen..."

Ihre Stimme wurde leiser und sie schien mehr zu sich selbst zu sprechen, als zu mir.

"Um ehrlich zu sein habe ich bereits einen Termin bei einer Psychologin gemacht. Übermorgen wirst du bei ihr vorstellig werden."

Nachdem Mama diesen Satz ausgesprochen hatte, wurde ihre Gesichtsfarbe augenblicklich wieder normal. Es schien so, als sei ihr ein großer Stein vom Herzen gefallen.

"Bei einer Psychologin? Wie soll die denn mein Problem lösen? Wenn dann brauche ich einen Hautarzt. Oder einen Chirurgen, der die Mitesser entfernt."

Schon wieder hatte Mama diesen bemitleidenden Blick drauf. Es war als würde sie gerade einen Hund ansehen, der aufgrund einer unheilbaren Krankheit kurz vor der Einschläferung stand.

"Es geht hier nicht um irgendwelche Mitesser, Annelie. Du hast dich selbst verstümmelt und jetzt suchst du nach einer Ausrede, um das zu rechtfertigen. Aber wir wissen schon längst, dass der Grund für dein Verhalten psychischer Natur sein muss. Niemand macht so ein Theater wegen ein paar Mitessern. Du wirst auf jeden Fall zu diesem Termin gehen und dann..."

Ich hörte Mama schon gar nicht mehr richtig zu. Ich konnte es nicht, selbst wenn ich gewollt hätte. Denn das Geräusch der Mitesser, die sich noch immer am Fleisch meiner Wange labten, überdeckte plötzlich alles Andere.

Der Grund dafür war eindeutig.
Sie befanden sich auf dem Weg zu meinem linken Ohr.

MitesserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt