Teil 19 | Der Keller

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Ich starrte meine Mama an, als hätte sie gerade eigenhändig das Leben eines unschuldigen Kindes ausgelöscht.

"Achte nicht darauf. Iss einfach."

Waren das wirklich ihre Worte gewesen?

Bedeutete das, dass sie das Gleiche gesehen hatte, wie ich?

War es möglich, dass jeder an diesem Tisch darüber bescheid wusste?

Waren sie alle so schweigsam und aphatisch gewesen, weil sie gewusst hatten, welches Grauen sie erwartete?

Aber wenn das wirklich der Grund war, wieso ließen sie sich dann überhaupt darauf ein, dieses fast schon dämonisch anmutende Fleisch zu essen?

Und was hatte Oma Charlotte damit zu tun? Oder wusste sie gar nichts davon?

Es schwirrten unzählige Fragen in meinem Kopf herum, die ich Mama am liebsten sofort gestellt hätte, doch ihr leichtes Kopfschütteln bedeutete mir, fürs Erste ruhig zu bleiben und nichts zu hinterfragen.

Bloß nicht darauf achten.

Einfach essen.

Das war allerdings leichter gesagt, als getan.

Der Anblick des porenübersähten, atmenden Bratens hatte mir gehörig den Appetit verdotben.

Nacheinander betrachtete ich die Gesichter in der Runde, angefangen bei Mama.

Ihre Mundwinkel hingen schlapp nach unten und ihre Augen wirkten glasig. Sie hatte sich wieder ihrem Teller zugewandt und stocherte lustlos in den Kartoffeln herum. Anscheinend versuchte sie dem Stück Fleisch so lange wie möglich aus dem Weg zu gehen.

Neben ihr saß Papa, der mit melancholischem Gesichtsausdruck an dem Braten entlang schnitt.

Ich fixierte das Fleisch auf seinem Teller und versuchte eine minimale Bewegung ausfindig zu machen. Jedoch blieb ich damit erfolglos. Das musste allerdings nicht zwangsläufig bedeuten, dass Papa keine Ahnung hatte, dass etwas mit dem Fleisch nicht stimmte. Ich konnte an seinen Augen ablesen, dass er sich vor irgendetwas fürchtete.

Mein Opa machte den Eindruck, als hätte er Papas betrübte Mimik imitiert. Durch die eingefallenen Augen und die tiefen Falten im Gesicht, sah er sogar noch trauriger aus. Mit zitternden Händen war er gerade dabei, sich ein Stück des Bratens in den Mund zu schieben. Es war, als würde er sich selbst dazu zwingen, weil er Oma nicht enttäuschen wollte.

Mein Blick glitt weiter zu Oma Charlotte. Sie war das komplette Gegenteil der anderen Anwesenden.
Entgegen jeglicher Erwartungen wirkte sie wie das blühende Leben.
Sie schien das Fleisch richtig zu genießen. Ihre Augen strahlten und ihre sonst so müde Haut sah in diesem Moment total strahlend aus - als würde das Fleisch ihr neue, jugendliche Lebensfreude schenken.

Was sollte das?
Wieso reagierte Oma als einzige so positiv auf das Fleisch?

War sie sich am Ende gar nicht über die seltsamen Anomalien, die das Fleisch aufwies, bewusst?

Ich wollte mich wieder meinem Braten zuwenden, doch in meinem Kopf herrschte eine Blockade.

Ich konnte nicht so tun, als hätte ich nichts gesehen und einfach weiter essen.

Anstatt mich dem Gruppenzwang hinzugeben, betrachtete ich wortlos das Essen auf meinem Teller und hoffte, dass diese seltsame Veranstaltung bald vorbei war.

"Wieso isst du denn nichts, Kind? Schmeckt es dir nicht?", fragte Oma Charlotte mit einem enttäuschten Unterton in der Stimme.

Der Glanz war aus ihren Augen gewichen und ihre Mundwinkel hingen schwer nach unten.

Ich hatte auf einmal das Gefühl, für die negative Entwicklung ihrer Stimmung verantwortlich zu sein.

"Doch. Es ist nur..."

Gerade als ich zu einer erlogenen Erklärung ansetzen wollte, bemerkte ich, dass sich der Zustand meines Bratens veränderte.

Erneut öffneten sich die tiefen, dunklen Poren, doch dieses Mal führten sie keine Atembewegungen aus.

Stattdessen entwich ihnen dieselbe extreme Hitze, die ich auch schon in meiner eigenen Haut gespürt hatte.
Bei mir waren die Mitesser der Auslöser für diese hohen Temperaturen gewesen.
Konnte es sein, dass dieses Fleisch mit ihnen infiziert war?

War es das, was Mama bereits wusste und tatenlos hinnahm?

Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Dieser Umstand war sowohl meiner aufkommenden Nervosität, als auch den hohen Temperaturen, die aus dem Fleisch strömten, zu verdanken.

Ich fühlte mich wie in einer Sauna.
Keine Sekunde länger würde ich es in diesem Zimmer aushalten.

"Ich... Ich muss mal aufs Klo", beendete ich meinen Satz und verließ das Esszimmer ohne ein weiteres Wort.

Ich schloss die Tür hinter mir und begab mich dann auf direktem Weg in den Keller. Nicht, um dort die Toilette aufzusuchen, sondern um mich etwas abzukühlen. Außerdem hoffte ich, dass ich mit etwas Abstand zu meiner Familie besser in der Lage sein würde, die Geschehnisse sinnvoll einzuordnen.

Die Treppenstufen knatschten ein wenig, als ich sie betrat.

Hoffentlich hörte mich niemand.
Was ich jetzt am wenigsten gebrauchen konnte, waren die Belehrungen meiner Eltern darüber, wie unhöflich es doch war, dass ich das Fleisch nicht anrührte.

Im Keller angekommen, stieg mir sofort der penetrante Geruch von Essig in die Nase.

Da war noch ein weiterer Duft, den ich jedoch nicht zuordnen konnte.

Die kühle Temperatur in dem dunklen Kellergewölbe war eine echte Wohltat für meinen überhitzten Körper.

Doch etwas irritierte mich.

Das kriechende Geräusch, das die Mitesser konstant in meinem Kopf erzeugten, war erneut zu hören - dieses Mal jedoch wesentlich lauter.

Und die Geräuschquelle hatte ihren Ursprung definitiv nicht in meinem Inneren.

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